Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
Narva. Der Straßenzustand war keine Überraschung. Der Lada schwankte und schlingerte, während er über die mit Eis und Schneematsch bedeckte unebene Fahrbahn holperte. Ich konnte und wollte mich nicht beklagen; ich war froh, dass ich den Motor wieder zum Laufen gebracht hatte.
Ich fuhr durch einige Kleinstädte und bemühte mich, die Lastwagen und Busse zu meiden, die mich in ihr lebensgefährliches Rennen hineinziehen wollten. Theoretisch hatte die Fernstraße zwei Spuren - für jede Fahrtrichtung eine -, aber in der Praxis fuhren alle in der Straßenmitte, wo es weniger Eis und mehr Asphalt gab. Als ich einen Wegweiser nach Voka sah, merkte ich mir die Fahrtzeit von Narva aus. Diese Straße würde ich später brauchen.
Wie sich zeigte, ragten in Kohtla Jarve die gigantischen Abraumhalden mit den langen Förderbändern auf, die ich vom Zug aus gesehen hatte. Grelles weißes Licht fiel aus Fabriken auf beiden Straßenseiten, während ich mich mit meinen
Truckerfreunden duellierte. Die Lichtflut verblasste, als die letzten Fabriken zurückblieben, und bald herrschte wieder finstere Nacht, durch die Kamikaze-Lastwagen und -Busse mit Fernlicht rasten, während immer wieder Kolonnenspringer - oft mit nur einem Scheinwerfer - alle anderen zu überholen versuchten.
Ich fuhr noch ungefähr 20 Kilometer weit nach Westen, bog dann links ab und fuhr nach Süden in Richtung Pussi weiter. Im Scheinwerferlicht des Ladas war zu sehen, dass diese einspurige Nebenstraße seit längerer Zeit nicht mehr geräumt worden war. Vor mir zogen sich nur zwei Fahrspuren durch den Schnee. Darin würde ich wie auf Schienen fahren.
Bis zum Zielgebiet hatte ich weitere 20 Kilometer nach Süden zu fahren. Es musste eine schnellere Verbindung als diesen rechten Winkel nach Westen und dann nach Süden geben, aber ich wusste nicht, wie genau die hiesigen Straßenkarten waren. Außerdem wollte ich möglichst lange auf Fernstraßen bleiben, weil man sich dort kaum verfahren konnte. Ich war recht zufrieden mit mir, weil ich ohne Straßenkarte hergefunden hatte, nachdem meine mir bei dem Raubüberfall in Tallinn abhanden gekommen war.
Der Scheinwerferkegel reichte auf beiden Seiten ungefähr fünf bis zehn Meter über die Fahrbahn hinaus und zeigte mir Schneewälle und gelegentlich einen verschneiten, mit Eis behangenen Baum, der darauf wartete, im Frühling zu neuem Leben erwachen zu können.
Dann fuhr ich durch Pussi, das ein kleines Bauerndorf zu sein schien. Die Häuser waren von Autowracks umgebene Bruchbuden aus rohem, unbehandeltem Holz. Viele Dächer waren aus Altersschwäche oder wegen schlechter Bauweise eingesunken. Auf den meisten waren primitive Leitern angebracht, von denen aus sich der Schnee abräumen ließ. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme wären die Dachstühle vermutlich eingebrochen.
Hier gab es Strom, denn hinter den Vorhängen sehr kleiner Fenster blitzte gelegentlich ein Lichtschein auf, und in einem Stall brannte eine trübe Glühbirne. Aber es gab offenbar kein fließendes Wasser, denn ich sah mehrere Dorfbrunnen mit Handpumpen von der Art, an der in einigen Filmen Clint Eastwood ein Streichholz anriss, um sich seine Panatella anzuzünden. Diese hier waren jedoch mit Planen und alten Säcken umwickelt, damit sie nicht einfroren. Aus praktisch allen Schornsteinen stieg Rauch auf. Die Dorfbewohner mussten den ganzen Sommer über fleißig Holz gehackt haben.
Kein Schild warnte mich davor, dass ich über die Gleise der Bahnstrecke Tallinn-Narva rattern würde, und danach waren keinerlei Anzeichen für menschliche Aktivitäten mehr zu sehen. Die Straße wurde stetig schlechter. Seit mit meiner Privateisenbahn durch den Schnee Schluss war, brach der Lada immer wieder aus, und seine Federung quietschte unter Protest als er durch ein Schlagloch nach dem anderen holperte. Ein Blick auf den Tacho zeigte mir, dass die T-förmige Kreuzung, auf die ich meiner Erinnerung nach bald stoßen musste, noch
einige Kilometer entfernt war.
An der Kreuzung bekam ich unerwartet Hilfe: Ein kleines Schild zeigte an, dass die Straße rechts nach Tudu weiterführte. Ich bog links ab und wusste nun, dass das Zielobjekt das erste Gebäude sein würde, das nach etwa zwei Kilometern auf der linken Straßenseite stand.
Nach ziemlich genau zwei Kilometern tauchte im Scheinwerferlicht eine hohe Betonmauer auf, die etwa zehn Meter vom linken Straßenrand zurückgesetzt war. Ich fuhr langsam weiter und kam nach etwa 40 Metern an einem großen Stahltor
Weitere Kostenlose Bücher