Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
Drama gab, eingerichtet hatte. Kelly hatte mir nie ein Wort davon erzählt, und ich hätte nie gedacht, sie könnte
Augenzeugin der drei Morde gewesen sein. Aber die damaligen Ereignisse schienen sich ihr unauslöschlich eingeprägt zu haben.
Dr. Hughes sah mich über ihre Brille hinweg an.
»Kelly erinnert sich sogar daran, welche Schlager sie im Radio gehört hat, während sie geholfen hat, den Tisch in der Küche zu decken. Sie hat mir erzählt, wie die Sonne durchs Küchenfenster geschienen und auf dem Besteck geglitzert hat. Sie erinnert sich, dass Aida ihr Haarband verloren hat, kurz bevor die Männer hereingekommen sind. Dass sie sich in Gedanken auf die Ereignisse unmittelbar vor den Morden konzentriert, erscheint mir als Versuch, ihnen eine andere Wendung zu geben.«
Ich war erleichtert, dass ihre Rückblenden sich auf diese Zeit beschränkten, aber wenn die Behandlung Erfolg hatte, würde sie sich bestimmt auch an die Zeit nach den Morden erinnern. Dann würde ich die Firma konsultieren müssen, weil dabei »sicherheitsrelevante«
Tatsachen ans Tageslicht kommen konnten. Aber
vorläufig brauchte sie nicht zu wissen, dass Kelly krank war.
Die Psychiaterin unterbrach meine Gedankengänge.
»Kommen Sie bitte mit, Mr. Stone. Ich möchte sie Ihnen zeigen und danach mit Ihnen besprechen, was wir zu 113
erreichen hoffen.«
Sie führte mich einen kurzen Flur entlang. Ich verstand nicht, was das alles sollte. Warum durfte Kelly mich nicht sehen? Wir bogen links ab und blieben vor einer Tür mit einem kleinen Fenster stehen, das mit einem Vorhang verschlossen war. Dr. Hughes schob ihn
behutsam mit einem Finger beiseite, sah hindurch, trat dann zurück und bedeutete mir, ich solle ebenfalls hindurchsehen.
Ich sah hindurch – und wünschte mir, ich hätte es nicht getan. Meine Erinnerungen an Kelly waren sorgfältig ausgewählte Momentaufnahmen aus der Zeit vor ihrer Erkrankung: ein kleines Mädchen, das bei seiner
Geburtstagsparty auf Sir Francis Drakes Golden Hind vor Aufregung zitterte, das vor Entzücken kreischte, als ich endlich mein Versprechen hielt und ihm den Tower of London mit den Kronjuwelen zeigte. Die wahre Kelly von heute saß jedoch auf einem Stuhl neben einer
Krankenschwester. Die Schwester schien mit ihr zu plaudern und lächelte dabei ständig. Kelly reagierte jedoch nicht darauf; sie bewegte sich nicht einmal. Sie hielt ihre Hände sittsam auf dem Schoß gefaltet und starrte mit leicht zur Seite gelegtem Kopf aus dem Fenster gegenüber, als grüble sie über irgendetwas nach.
Diese unnatürlich stille Haltung war zutiefst
erschreckend.
Dr. Hughes sprach dicht neben meinem rechten Ohr.
»Kelly hat frühzeitig Lektionen über Verlust und Tod lernen müssen, Mr. Stone. Wie soll eine Siebenjährige, die sie damals war, Morde verstehen? Ein Kind, das 114
Augenzeuge von Gewalt wird, erkennt schlagartig, dass die Welt ein gefährlicher, unberechenbarer Ort ist. Sie hat mir erzählt, dass sie nicht glaubt, dass sie sich jemals wieder im Freien sicher fühlen wird. Dafür kann niemand etwas, aber sie glaubt aus Erfahrung, die Erwachsenen in ihrem Leben seien außer Stande, sie zu beschützen. Sie glaubt, die Verantwortung für sich selbst übernehmen zu müssen – eine Vorstellung, die ihr große Angst macht.«
Ich sah das erstarrte kleine Mädchen erneut an. »Kann ich ihr irgendwie helfen?«
Dr. Hughes nickte langsam, als sie den Vorhang
zurückfallen ließ und sich abwandte, um wieder ins Sprechzimmer zu gehen. »Im Lauf der Zeit müssen wir ihr helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und zu lernen, ihre Angstgefühle zu besiegen. Ihre Behandlung wird in Form einer ›Gesprächstherapie‹ mit Einzel- oder Gruppengesprächen stattfinden, aber dafür ist es noch zu früh. Um die schlimmsten Symptome zu mildern, muss sie zunächst weiterhin Antidepressiva und einen leichten Tranquilizer bekommen.
Unsere Therapie bezweckt, Kelly zu helfen, sich
gefahrlos an ihre traumatischen Erlebnisse zu erinnern, damit Familienleben, Freundschaften und
Schulleistungen wieder ihren gebührenden Platz
einnehmen können. Ganz allgemein müssen wir ihr
helfen, die Empfindungen zu verarbeiten, mit denen sie im Augenblick kämpft: Trauer, Schuldbewusstsein, Zorn, Depression, Angst. Ihnen wird aufgefallen sein, Mr.
Stone, dass ich ›wir‹ sage.«
Wir erreichten ihr Sprechzimmer. Ich nahm wieder
115
Platz, und sie setzte sich an ihren Schreibtisch.
»Für Kinder sind
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