Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
üblicherweise die Eltern die
wichtigsten emotionalen Beschützer, Mr. Stone. Sie können ihre Kinder psychologisch weit besser trösten und beruhigen als jeder Außenstehende. Sie können mit ihnen über ihre Ängste reden, ihnen versichern, dass Mammi und Daddy alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um sie zu beschützen, und in ihrer Nähe bleiben.
Auch wenn das bei Kelly leider nicht möglich ist, braucht sie einen verantwortungsbewussten Erwachsenen, auf den sie sich verlassen kann.«
Ich begann zu verstehen. »Sie meinen ihre
Großmutter?«
Ich hätte schwören können, sie sei erschaudert.
»An die habe ich weniger gedacht. Sehen Sie, ein
wichtiger Faktor bei der Heilung eines Kindes von diesem Syndrom ist die Bereitschaft seiner
Bezugsperson, über die Gewalttat zu sprechen und ein unparteiischer Zuhörer zu sein. Kinder müssen erfahren, dass es zulässig ist, über Gewalt zu reden. Kelly braucht gewissermaßen die Erlaubnis, über alles zu reden, was ihr zugestoßen ist. Manche Bezugspersonen halten Kinder mit subtilen Methoden davon ab, über Gewalt in ihrem Leben zu reden, und genau das ist meinem Empfinden nach bei Kellys Großeltern der Fall.
Ich glaube, dass ihre Großmutter gekränkt und
entmutigt ist, weil Kelly alles Interesse an
Familienaktivitäten verloren hat und so distanziert und leicht reizbar ist. Sie findet es sehr belastend, die Einzelheiten zu hören – vielleicht weil sie glaubt, für 116
Kelly sei es weniger belastend, nicht darüber zu
sprechen. Dabei ist es für Kinder oft beruhigend und erleichternd, sich bei vertrauenswürdigen Erwachsenen aussprechen zu können. Es kann auch therapeutisch nützlich sein, wenn Kinder ihre Erlebnisse und Ängste verarbeiten, indem sie die Geschichte nochmals erzählen.
Damit meine ich nicht, dass wir Kelly dazu zwingen sollten, ihre Erlebnisse zu schildern, aber sobald sie freiwillig darüber spricht, könnten Beruhigung und Bestätigung ungeheuer viel zu ihrer Genesung
beitragen.«
Dieser ganze Psychomüll wurde mir allmählich zu
viel. Ich begriff nicht, was ich damit zu tun haben sollte.
Als habe die Ärztin meine Gedanken gelesen, schob sie erneut die Unterlippe vor und sah mich über ihre Halbbrille hinweg an. »Das Ganze läuft darauf hinaus, Mr. Stone, dass Kelly bei ihrem Heilungsprozess einen vertrauenswürdigen Erwachsenen an ihrer Seite brauchen wird – und meiner Ansicht nach sind Sie dafür ideal geeignet.«
Sie machte eine Pause, um mir Zeit zu geben, die
Konsequenzen ihrer Ausführungen zu begreifen.
»Sehen Sie, Kelly vertraut Ihnen; sie spricht voller Zuneigung von Ihnen und betrachtet sie als eine Art Ersatzvater. Was sie weit mehr als die Aufmerksamkeit und Therapie braucht, die wir Ärzte ihr geben können, ist das Bewusstsein, dass Sie diese Rolle akzeptieren und sie auch ausfüllen werden.« Sie fragte mit besonderem Nachdruck: »Hätten Sie damit irgendwelche
Schwierigkeiten, Mr. Stone?«
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»Ich nicht, aber vielleicht mein Arbeitgeber. Ich müsste erst …«
Dr. Hughes hob eine Hand. »Sie haben den Kokon
gesehen, mit dem Kelly sich umgeben hat. Es gibt keine unfehlbare Methode, ihn zu durchbrechen, wenn jemand außer Reichweite ist. Aber unabhängig von der Ursache muss eine Form der Liebe Bestandteil der Lösung sein.
Was Kelly braucht, ist ein Prinz auf einem feurigen Rappen, der sie aus der Gewalt des Drachens befreit.
Meiner Überzeugung nach hat sie beschlossen, ihren Kokon nicht zu verlassen, bevor Sie wieder ein integraler Bestandteil ihres Lebens sind. Ich bedaure, Ihnen diese Verantwortung aufbürden zu müssen, Mr. Stone, aber Kelly ist meine Patientin, deren Interessen ich wahren muss. Deshalb wollte ich nicht, dass sie Sie heute sieht; ich will nicht, dass sie anfängt, Hoffnungen zu hegen, die dann wieder enttäuscht werden. Bitte gehen Sie und denken Sie darüber nach, aber glauben Sie mir, je eher Sie sich dazu verpflichten können, desto eher wird Kellys Zustand sich bessern. Bis dahin ist jede Art Therapie auf Eis gelegt.«
Ich griff in meinen Rucksack und holte die gerahmten Fotos heraus. Mehr fiel mir in diesem Augenblick nicht ein. »Die habe ich ihr mitgebracht. Es sind Fotos von ihrer Familie und von Freunden. Vielleicht helfen sie ein bisschen.«
Dr. Hughes nahm sie entgegen, während sie weiter auf meine Antwort wartete. Als sie merkte, dass sie keine bekommen würde – zumindest nicht heute –, nickte sie schweigend und bugsierte mich freundlich,
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