Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
dem Weihnachtsmann gegenüber, der eine Glocke schwang und Geld forderte. Wir machten einen Bogen um ihn.
Mit seinen sauberen Steinböden, massiven
Granitsäulen und der unglaublich hohen Decke glich die Bahnhofshalle mehr einem gut erhaltenen Museum als einem Bahnhof. An den Kronleuchtern hingen kleine Schneemänner, und der Geräuschpegel war erstaunlich hoch: Lautsprecherdurchsagen hallten, Leute redeten, Handys klingelten, und in einer Ecke spielte ein
Straßenmusikant auf seinem Akkordeon die finnische Version von »Good King Wenceslas«. Überall roch es stark nach Zigarettenqualm und Fast Food.
Eine Gruppe von Leuten mit Weihnachtsmann-Zip-
felmützen und geschulterten Skiern zwängte sich an gestresst in ihre Handys quasselnden Geschäftsleuten in Mänteln und Pelzmützen vorbei. Merkwürdig war nur, 241
dass kein einziger Zug zu sehen oder zu hören war – die für Winterbetrieb gebaute Bahnhofshalle war zu den Bahnsteigen hin abgeschlossen.
Tom rieb sich die Hände. Hier gefiel es ihm. »Jesus, ich fühle mich wieder fast wie ein Mensch. Was machen wir jetzt, Nick?«
Der Weihnachtsmann bat weiter um milde Gaben,
während wir dastanden und uns orientierten, und ich überlegte mir, dass »fast« so nahe war, wie Tom jemals ans Menschentum herankommen würde.
Livs toter Briefkasten war leicht zu finden und wie der im Langham Hilton gut gewählt. Wir standen mit dem Rücken zum Haupteingang. Vor uns hatten wir eine
breite Treppe und Rolltreppen, die zur U-Bahn
hinunterführten. Die drei Seiten des Treppenabgangs waren von einer freien Fläche mit hölzernen
Wartebänken umgeben. Der tote Briefkasten befand sich neben einem Abfallkorb am linken Rand der Bankreihen.
Tom folgte mir, als ich zwischen dem toten
Briefkasten und der links liegenden großen Schalterhalle hindurch auf einen Zeitungsstand zuging. Auf der Bank saß ein Mädchen, das die Ohren voller Walkman-Sound und den Mund voller Kaugummi hatte, während es in einer Zeitschrift blätterte. Es trug eine marineblauen Daunenhose mit dazu passender Jacke, deren
Reißverschluss geöffnet war, damit sie nicht ins
Schwitzen geriet.
Kurz bevor wir die Bank erreichten, nickte ich Tom zu. »Pass gut auf, Kumpel. Siehst du die Kleine in Blau?«
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Er nickte, und wir gingen weiter.
»Okay, wenn du genau dort, wo sie jetzt sitzt, unter die Bank greifst, findest du einen mit Klettband befestigten kleinen Plastikbehälter. Sobald du sicher bist, dass dich niemand beobachtet, nimmst du ihn an dich, gehst weg und schreibst irgendwo auf einen Zettel, wo du zu finden bist, und bringst den Behälter wieder an. Dann wirst du schnellstens abgeholt.«
»Fast wie in einem James-Bond-Film, Nick? Das
gefällt mir nicht.«
»Dieser tote Briefkasten ist nur eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme. Du musst wissen, was du zu tun hast, falls irgendwas schief geht. Stell dir vor, ich hätte mir ein Bein gebrochen und könnte nicht herkommen.
Dann müsstest du einspringen, das Material übergeben und unser Geld abholen.«
»Aber ich will keine krummen Touren. Ich will nicht, dass Liv oder sonst wer reingelegt wird, verstehst du?
Damit will ich nichts zu tun haben, Kumpel. Ich will bloß das Geld.«
Wir blieben an der Wand neben dem Zeitungskiosk
stehen.
»Tom, alles klappt wie am Schnürchen. Das hier musst du nur für den Fall wissen, dass ich durch eine
Verletzung behindert bin. Du bist meine
Versicherungspolice, und ich bin deine.«
Das gefiel ihm. Das Mädchen stand auf, kam auf uns zu und nickte dabei im Takt zur Musik, die in ihren Ohren steckte.
»Also los, sieh nach, ob schon etwas da ist.«
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»Was, jetzt?« Er wirkte völlig verängstigt. »Wo’s überall von Leuten wimmelt?«
»Hier herrscht immer Betrieb, Tom. Dies ist ein
Bahnhof, verdammt noch mal! Du brauchst nur
rüberzuschlendern, dich hinzusetzen, deine Hand unter die Bank zu stecken und die Unterseite abzutasten.
Während du das tust, gehe ich etwas Geld für dich wechseln, okay?«
Ich wartete seine Antwort nicht ab. Ich wollte, dass er das Ganze einmal durchexerzierte. Musste er dann allein herkommen, würde er wenigstens wissen, was er zu tun hatte.
Hinter den massiven Holztüren, durch die sich
geschäftig wirkende Leute drängten, sah ich an allen Bahnsteigen verschneite Waggons stehen. Rechts von mir befanden sich Läden, die Toiletten und etwa 50
Meter entfernt der Ausgang zum Busbahnhof. Auf der linken Seite sah ich weitere Läden, die
Gepäckaufbewahrung und
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