Nick Stone - 04 - Eingekreist
panische
Angst, die man empfindet, wenn man glaubt, sein Kind in einer Menschenmenge verloren zu haben. Allein die Vorstellung, Luz irre durch die Straßen, ohne jemanden zu haben, der sie beschützt, der sich um sie kümmert …
Kennen Sie dieses Gefühl?«
Ich dachte an meinen Traum von letzter Nacht. Und
wie ich es kannte!
»Wir haben sie schließlich in einem der Auffanglager gefunden, in einer Kinderkrippe mit all den anderen Waisenkindern. Alles Weitere hat sich dann von selbst ergeben. Seit damals ist Luz unsere Pflegetochter.« Sie seufzte. »Wir haben Lulu so sehr geliebt.«
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Ich hatte seit ihrer letzten Frage langsam genickt, weil ich meinen eigenen trübseligen Gedanken
nachhing, obwohl ich ihr weiter zuhörte. »Auch ich habe Freunde verloren«, sagte ich. »Tatsächlich sogar alle.
Sie fehlen mir sehr.«
»Ohne sie ist es einsam, nicht wahr?« Sie griff nach der Wasserflasche, bot mir an, den Rest mit ihr zu
teilen, und wartete zugleich darauf, dass ich
weitersprechen würde. Ich schüttelte dankend den Kopf und ließ sie das Wasser allein austrinken.
»Glauben Sie, dass die USA damals das Richtige
getan haben?«, fragte ich.
Carrie setzte die fast leere Flasche ab. »Sie hätten früher eingreifen müssen. Wie konnten wir untätig
dasitzen und Noriega gewähren lassen – die Morde, die Folterungen, die Korruption? Wir hätten viel früher aktiv werden müssen. Als bekannt wurde, dass er sich den Amerikanern ergeben hatte, waren überall in der Stadt begeisterte Hupkonzerte zu hören. In dieser Nacht wurden viele rauschende Feste gefeiert.« Ihre Stimme klang plötzlich verbittert. »Viel genützt hat es
allerdings nicht. Mit unserem Rückzug aus der
Kanalzone haben wir wieder alles aufgegeben.« Sie hing einige Sekunden lang ihren eigenen Gedanken nach, und ich beobachtete stumm, wie ihre Miene immer trauriger wurde. Dann sah sie wieder auf. »Wissen Sie was, Nick?
Damals hat sich etwas ereignet, das ich nie vergessen werde. Es hat mein Leben verändert.«
Ich beobachtete sie weiter, während sie die Flasche austrank.
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»Am Neujahrstag, fast zwei Wochen nach der
Invasion, habe ich mit Luz in den Armen in unserem
Haus vor dem Fernseher gesessen. Barbara Bush war
Gast bei irgendeiner Show, und auf der Bühne hat ein Chor ›God Bless America‹ angestimmt. Alle Zuschauer sind spontan aufgestanden und haben mitgesungen. Im selben Augenblick ist ein Hubschrauber tief über uns hinweggeflogen, und ich konnte noch immer das riesige Flugzeug kreisen hören … und ich bin in Tränen
ausgebrochen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich stolz darauf, Amerikanerin zu sein.«
Eine Träne quoll unter der Sonnenbrille hervor und
lief über ihre Wange. Carrie versuchte nicht, sie
abzuwischen, als weitere folgten.
»Aber wissen Sie was? Jetzt bin ich unseretwegen so traurig – weil wir einfach alles weggeworfen haben, wofür diese Leute damals ihr Leben hingegeben haben.
Können Sie das verstehen, Nick?«
Ja, das verstand ich, aber auf dieses Gebiet wagte ich mich wohlweislich nie vor. Ich wusste nicht, ob ich von dort wieder zurückgefunden hätte.
»1993 habe ich einen Hauptmann der Delta Force,
einen Kerl namens Johnny Applejack, kennen gelernt.
Nun, so haben wir ihn jedenfalls genannt …« Ich
erzählte ihr, wie er in der ersten Nacht in Panama City mit seinem Spähtrupp in einem Büro des panamaischen Innenministeriums drei Millionen Dollar in bar entdeckt hatte. Johnny und die fünf Männer seines Trupps fuhren heute nur deshalb keine Porsches, weil er seine
Entdeckung über Funk meldete, ohne richtig darüber
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nachzudenken. »Erst als er sich abmeldete, wurde ihm klar, dass er eben den Pensionsfonds seines Spähtrupps verschleudert hatte. Ich weiß nicht, wie Johnny heute aussieht, aber damals hat er ausgesehen wie jemand, der nach der Ziehung der Lottozahlen merkt, dass er
vergessen hat, seinen Schein abzugeben.«
Sie lächelte.
Nun folgte eine Pause, in der ich verlegen schwieg, während ich zusah, wie sie einen Zeigefinger unter ihre Brillengläser schob und sich die Augen abwischte. Aber ich hatte erreicht, was ich wollte: Ich hatte den Bann gebrochen. Als ich aufstand, zeigte ich auf das noch immer über ihren Knien liegende Gewehr. »Kommen Sie mit zur Dreihundertermarke?«
»Warum nicht?«
Ich wartete, bis sie aufgestanden war. Die dunklen
Brillengläser starrten mich wieder an. »Das andere Zeug ist Ihnen wohl zu sehr unter die Haut
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