Nick Stone - 04 - Eingekreist
hören,
wie ein Verschlusshebel mehrmals zurückgezogen
wurde und Messingpatronen leise klirrend auf die
Bettdecke fielen. Natürlich war das Gewehr geladen
gewesen – wozu hätten sie es sonst an die Wand hängen 308
sollen?
Sie kam mit dem Gewehr in der einen und einem
Blechbehälter mit Bandgriffen in der anderen Hand
zurück. Der Behälter hatte keinen Deckel, und ich
konnte sehen, dass darin Patronenschachteln gestapelt waren.
Ich hatte nur Augen für das Scharfschützengewehr
mit aufgesetztem Zielfernrohr. Es war tatsächlich eine sehr altmodische Waffe, deren Schaft sich unter dem ziemlich langen Lauf bis fast unter die Mündung
fortsetzte.
Carrie hielt das Gewehr hoch. »Das ist ein Mosin-
Nagant. Mein Vater hat es im Krieg einem gefallenen nordvietnamesischen Scharfschützen abgenommen.«
Ich kannte diese Waffe. Sie war ein Klassiker.
Bevor sie mir das Gewehr gab, hielt sie es mir so hin, dass ich den zurückgezogenen Verschlusshebel, die leere Kammer und das leere Magazin sehen konnte. Ich war
beeindruckt, was man mir bestimmt anmerkte. »Mein
Vater … nun, welchen Sinn hätte es, eine Waffe zu
haben, wenn man nicht mit ihr umgehen kann?«
Ich überprüfte die Kammer – entladen – und nahm die Waffe entgegen. »Bei welcher Teilstreitkraft war er?«
Sie setzte sich wieder und griff nach ihrem
Kaffeebecher. »Army. Er ist als General in Pension
gegangen.« Sie nickte zu den Fotos am Kühlschrank
hinüber. »Die Szene am Strand? Das sind Kameraden
aus der Army.«
»Was hat er gemacht?«
»Technisches Zeug, Aufklärung. Eines muss man
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George lassen – er hat Grips. Jetzt ist er bei der Defense Intelligence Agency.« Sie gestattete sich ein stolzes Lächeln, während sie das Foto erneut betrachtete. »Mit auf dem Bild sind ein wichtiger Berater des Präsidenten und zwei weitere Generale, von denen einer noch aktiv ist.«
»Der Mann links außen hat eine hässliche Narbe. Ist das einer der Generale?«
»Nein, er hat den Militärdienst in den
Achtzigerjahren quittiert, kurz vor den Anhörungen zur Iran-Contra-Affäre. Damit hatten alle irgendwie zu tun, aber die ganze Schuld ist an Ollie North hängen
geblieben. Was dann aus ihm geworden ist, habe ich nie recht mitbekommen.«
Hatte George mit der Iran-Contra-Affäre zu tun
gehabt, würde er sich mit Aufträgen wie meinem
auskennen. »Schwarze« Unternehmen, von denen
niemand etwas wissen wollte – und die Leute wie er nie ohne Not preisgaben.
Die Verbindung zwischen diesen beiden – George und
dem Pizzamann – begann mir unheimlich zu werden.
Aber ich war nur ein kleines Rädchen in dem großen
Getriebe und wollte in nichts verwickelt werden, was vielleicht hier unten ablief. Ich musste darauf achten, nicht versehentlich hineinzutappen, das war alles. Ich musste Anfang kommender Woche in Maryland sein.
Luz rief aus dem Computerraum: »Mom, Grandpa
will mit dir reden!«
»Dauert nicht lange«, sagte Carrie höflich, als sie aufstand und nach nebenan verschwand.
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Ich nutzte die Gelegenheit, um mir den großen,
muskulösen George mit dem kantigen Kinn, der
lächelnd mit Luz auf der Veranda posierte, nochmals genauer anzusehen. Von wem Carrie ihre grünen Augen geerbt hatte, war offensichtlich. Ich las das eingedruckte Aufnahmedatum am rechten unteren Bildrand: 04-99,
vor nur achtzehn Monaten. Mit seinem kurzen, adrett gescheitelten Haar sah er noch immer wie der typische amerikanische Junge aus – und auf fast unheimliche
Weise jünger als Aaron. Im Gegensatz zu George sah
der Pizzamann im Vergleich zu seiner damaligen
Erscheinung wie der Tod auf Rädern aus. Er war jetzt magerer, grauhaariger und hatte vermutlich Lungen wie Ölschlick, wenn er immer so gierig rauchte, wie ich ihn an einer Zigarette hatte ziehen sehen.
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Ich kehrte in die Realität zurück und begutachtete das Gewehr, das im Vergleich zu heutigen Präzisionswaffen schlicht und unkompliziert aussah. Natürlich hatten sich die grundlegenden Bestandteile seit dem 19.
Jahrhundert nicht mehr verändert: Abzug, Sicherung, Visier und Lauf. Obwohl ich kein Waffennarr war,
kannte, ich mich mit russischen Feuerwaffen gut genug aus, um zu wissen, dass diese Dinger trotz ihres
schlichten Aussehens in den Vierzigerjahren an der
Ostfront vermutlich Tausenden von Deutschen den Tod 311
gebracht hatten. Das in den Stahl der Kammer
eingeschlagene Beschusszeichen bewies, dass diese
Waffe aus dem Jahr 1938 stammte. Vermutlich hatte sie eine
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