Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
benutzten den Fußgängerübergang links neben
dem Bahnhof und wateten durch die McFlurry-
Pappbecher auf dem Gehsteig vor dem geschlossenen McDonald’s. Sah man von dem MTC ab, war das
gesamte hundert Meter lange Erdgeschoss des Gebäudes bis hinunter zur King’s Cross Bridge mit purpurrot gestrichenen Spanplatten verkleidet, an denen ich schon gelehnt hatte, als wir dem Informanten und seinen beiden Kumpels vom Starbucks aus hierher gefolgt waren.
Suzy blickte lächelnd zu mir empor, als kämen wir aus einem gemütlichen Pub und machten bei nachlassendem Nieselregen einen romantischen Spaziergang nach Hause.
Ich sah zum Himmel auf. »Von hier aus kommen wir
nicht rein. Hast du die Straßenbeleuchtung gesehen?«
Sie nickte. Die Straßenlampen befanden sich auf
gleicher Höhe mit dem Oberrand der Fenster des zweiten Stocks. Auch wenn die Scheiben grau vor Schmutz
waren, würden diese riesigen Fenster so viel Licht einfallen lassen, dass überall Schatten entstanden. Wer sich in den beiden ersten Stockwerken aufhielt, hatte genügend Licht, aber er musste auch tagsüber unterhalb der Fensterbänke bleiben – schließlich konnte ich durch die Fenster im ersten Stock bis zur Gray’s Inn Road hinübersehen. Das erforderte große Einschränkungen: kein Rauchen, kein Licht, kein Kochen.
Aus Gebäuden an der Gray’s Inn Road musste jede
Bewegung leicht zu erkennen sein. Auf der uns
zugewandten Seite waren die Fenster im zweiten und dritten Stock etwas kleiner als die unteren, und ich konnte nur genug von den oberen Stockwerken sehen, um festzustellen, dass dahinter keine größeren Räume lagen.
Wir sahen weiterhin kein Lebenszeichen: kein Licht, keine beschlagenen Fenster, nicht einmal ein zugehängtes oder mit Zeitungspapier beklebtes Fenster. Weiter die Pentonville Road entlang stand eine Ansammlung von zweistöckigen Gebäuden, die noch benutzt wurden; sie bildeten den Abschluss des Keils, sozusagen das
Schiffsheck. Sie schienen aus den sechziger Jahren zu stammen und enthielten ein nachgeahmtes KFC und ein Elektronikgeschäft. Ihre Besitzer hofften vermutlich sehr, der Bauträger würde auch ihre Bruchbuden aufkaufen.
Wir überquerten die Pentonville Road und gingen bis zur Grundlinie des Dreiecks an der King’s Cross Bridge.
Vielleicht hatte es dort wirklich mal eine Brücke gegeben, vermutlich über einen Kanal, aber jetzt
bezeichnete dieser Name die ungefähr siebzig Meter lange Verbindung zwischen Pentonville und Gray’s Inn.
Als wir nach rechts abbogen – genau unter einer
weiteren Uberwachungskamera –, rasten ein
Streifenwagen und ein Van, beide voller Uniformen, hinter uns vorbei.
39
Die Überwachungskamera vor dem Bahnhof King’s
Cross war jetzt auf die British Library gerichtet. Suzy grinste, während sie ein weiteres Stück
Nikotinkaugummi in Angriff nahm. »Vielleicht werden sie alle abmontiert, wenn die Bahnhofsgegend wieder schön und neu ist.«
»Ungefähr so wahrscheinlich wie eine Wiederwahl
Ken Livingstones.«
Der Verkehr brandete die Gray’s Inn Road entlang, während wir nochmals die Schaufensterfront von Boots nach dem Informanten absuchten. Das Zielobjekt eignete sich tatsächlich sehr gut als vorgeschobener Stützpunkt.
Auf der Baustelle wurde an Wochenenden vermutlich nicht gearbeitet, sodass niemand befürchten musste, von dort aus beobachtet zu werden. Die Büroräume in den Stockwerken über den Läden auf dieser Seite der Gray’s Inn Road waren größtenteils vermietet, aber es war bestimmt nicht allzu schwierig, übers Wochenende dafür zu sorgen, dass man von dort drüben aus nicht gesehen wurde – vor allem wenn die ASU-Mitglieder in einem der auf die Pentonville Road hinausführenden Räume im dritten Stock blieben.
Ich kontrollierte die Klingelknöpfe an den auf unserer Straßenseite zwischen Ladenfronten eingezwängten
Haustüren. Ich wollte sehen, ob über uns – vor allem über der Costcutter-Filiale – auch Wohnungen lagen. Nur ein paar Klingeln hatten Namensschilder, und die wenigen Namen waren auf kleine Papierfetzen gekritzelt.
Obwohl hier reichlich Überwachungskameras standen, gab es weitere Faktoren, die das Gebäude zu einem guten vorgeschobenen Stützpunkt machten. In einem
Hotelzimmer besteht immer die Gefahr, aus dem Zimmer nebenan belauscht zu werden. Mietet man ein Zimmer oder eine Wohnung, gibt es Besichtigungstermine,
Mietverträge, Kautionen, den ganzen Papierkram, der erledigt werden muss und einen verraten kann. Und
Weitere Kostenlose Bücher