Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
das Active Service Unit hatte nicht in irgendein Haus eindringen und seine Bewohner als Geiseln nehmen oder töten müssen, um dort einen Stützpunkt einrichten zu können; es hatte lediglich ein leer stehendes Gebäude besetzen und sich dann ruhig verhalten müssen.
Ich versuchte, sie mir drinnen vorzustellen – vielleicht mit neuen Schlafsäcken, weiter von Fastfood lebend.
Würden sie vor dem Einsatz beten? Machten sie sich vor Angst in die Hosen, oder waren sie völlig auf ihr Ziel fixiert? Gab es dort oben weitere Frauen? Hatten sie vor, nach dem Einsatz Selbstmord zu verüben? Oder würden sie noch ein paar Tage durch die Stadt streifen, um weitere Opfer anzustecken, bis sie selbst
zusammenbrachen?
Im Schutz eines Ladeneingangs bedrängten zwei Kerle Anfang zwanzig mit Stella-Dosen in der Hand ein
Mädchen, das ebenfalls zur Pennerszene zu gehören schien. Die Kleine in zerrissenen Jeans, einem
schmuddeligen T-Shirt und einer Bomberjacke aus
grünem Nylon war bestimmt kaum ein Jahr älter als Kelly. Ihr ausgezehrtes Gesicht war voller Pickel, ihr Haar fettig und nass wie der Asphalt. Während die Kerle schwankten, lehnte sie an einem Zeitungsständer mit Exemplaren des Evening Standard , dessen Schlagzeile die SARS-Hysterie weiter anheizte, und kicherte. Einer der beiden sagte, für den Gefallen, den sie ihr tun würden, hätten sie beide einen Blowjob verdient. Sie trank einen Schluck aus einer ihrer Bierdosen.
»Vielleicht.« Ihre Augen waren groß wie Untertassen, die Pupillen schwarz und riesig.
»Hey, alles in Ordnung mit dir?« Suzy stieß mir leicht in die Rippen.
Ich hatte wieder Magenschmerzen. »Ich weiß nicht, vielleicht waren die Sandwichs nicht ganz koscher.«
Als wir uns der Stelle näherten, wo die beiden Straßen sich am Schiffsburg vereinigten, stauten sich vor einer Ampel Autos mit hektisch arbeitenden
Scheibenwischern. Auf dieser Seite verschwanden die Ladenfronten nicht hinter purpurrot gestrichenen
Spanplatten. Die meisten hatten nur verrostete
Scherengitter. Ich sah nirgends den kleinsten Lichtschein, und alle nach oben führenden Türen schienen mit
klobigen Vorhängeschlössern gesichert zu sein.
Wir überquerten die Straße in Richtung Spielhalle. Ich war sauer, weil unser Mann sich nicht hatte blicken lassen. »Komm, wir machen eine vollständige Runde, bevor wir uns die Schlösser ansehen. Außerdem will ich bei dem Informanten vorbeigehen, um festzustellen, ob er zu Hause ist. Ich traue diesem Scheißkerl einfach nicht.«
Wir sahen die Birkenhead Street entlang, um
festzustellen, wohin die Überwachungskamera an der Einmündung der St. Chad’s Street blickte. Sie war nicht auf das Haus gerichtet, in dem der Informant wohnte, sondern erfasste jetzt den Bereich rechts hinter der Kreuzung.
Plötzlich blieb Suzy stehen und wandte sich mir zu, als wollte sie mich küssen. »Da ist er! Kommt von links vorn auf uns zu.«
Ich blickte auf. Der Informant näherte sich dem
Bahnhof. Ich nickte Suzy zu. »Wir fangen ihn an der Kreuzung ab.«
Wir bogen an der Spielhalle links ab, und Suzy
spuckte den Nikotinkaugummi aus, bevor sie sich an mich kuschelte. Sekunden später tauchte er wieder auf: den Kragen seines Regenmantels hochgeklappt, die
Hände tief in den Taschen vergraben. Er zögerte, als er uns sah, dann überquerte er rasch die Straße. Als die farbig blinkenden Lichter sein Gesicht erhellten, konnte ich sehen, dass er so sauer war wie ich. Aber das spielte keine Rolle. Suzy fauchte ihn an, als er noch zwei, drei Schritte zu machen hatte, um unters Vordach der
Spielhalle zu kommen. »Verdammt, wo bleiben Sie so lange? Wir wollten die Umgebung mit Ihnen besichtigen
…«
»Reden Sie keinen Unsinn, das kann ich unmöglich
machen. Die ganze Welt beobachtet uns.« Er sah sich hektisch um, als erwarte er, an jedem Fenster ein Gesicht zu sehen. »Auf den Straßen war so viel los, dass ich eine Zeit lang verschwinden musste. Ich komme gerade
zurück, um mich mit Ihnen zu treffen.«
Suzy bedachte ihn mit einem Freut-mich-Sie-zu-sehenLächeln. »Ist Ihnen irgendwas aufgefallen?«
»Nein, nichts. Was erwartet ihr Leute eigentlich von mir? Ich habe King’s Lynn für euch entdeckt, was wollt ihr mehr?«
Das nahm ich ihm nicht ab. »Das ASU hat sich
praktisch vor Ihrer beschissenen Haustür verkrochen, und Sie wissen nichts davon?«
Er kniff seine blutunterlaufenen Augen zusammen.
»Es gibt vieles, was ich nicht weiß. Mir ist es
gleichgültig, was Sie denken,
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