Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
dir am besten Carmen.« Ich hörte den Fernseher in ihrem Wohnzimmer und wusste, dass die alte Ordnung wieder hergestellt war.
»Hallo?« Das war ihre Märtyrerinnenstimme.
»Tut mir Leid, Carmen, aber ich weiß nicht, ob ich heute Abend zurückkommen kann.«
»Ach, tatsächlich? Und was bedeutet das?«
»Dass ihr sie nach Chelsea bringen müsst. Sie darf keinen ihrer Termine versäumen. Glaub mir, ich
versuche, rechtzeitig zurückzukommen und sie selbst hinzubringen. Ich möchte mit ihr zusammen sein.« Ich konnte hören, wie sie tief Luft holte, um mir einen Vortrag zu halten, aber ich war schneller. »Hör zu, Carmen, sparen wir uns diesen Scheiß, dafür hab ich keine Zeit. In ein paar Jahren ist sie alt genug, um sich um sich selbst zu kümmern, und dann brauchen wir nie mehr miteinander zu reden. Deine ständige Jammerei ertrage ich nur wegen Kelly. Red also ausnahmsweise normal mit mir, ja? Bringt ihr sie hin oder nicht?«
Sie prustete und schnaubte. »Aber wir wissen nicht, wie man zu dieser Psychiaterin kommt. Jimmy findet sich in der U-Bahn nicht zurecht.« Sie konnte einfach nicht anders.
Ich bemühte mich um einen gelassenen Tonfall.
»Carmen, ihr fahrt einfach nicht mit der U-Bahn. Pass auf, du buchst heute Abend ein Taxi – schließlich stecken dauernd Werbekarten für Minitaxis bei euch im
Briefkasten. Und ich zahle dafür. Siehst du, schon ist alles geregelt.«
»Aber wann muss sie dort sein? Wir können nicht
einfach Hals über Kopf wegfahren. Taxis brauchen einige Zeit, um einen abzuholen, weißt du. Wir können nicht
…«
»Das besprechen wir alles in ein paar Minuten. Ist Kelly da? Kann ich sie kurz sprechen?«
Ihr Tonfall änderte sich nochmals. Ich merkte, dass sie sehr zufrieden mit sich selbst war. »Sie ist im Augenblick sehr wütend auf dich, kann ich dir sagen. Wir bekommen kein Wort aus ihr heraus. Was du ihr erzählt hast, hat sie sehr aufgebracht. Aber keine Sorge, wir kommen schon zurecht.«
»Carmen, kannst du diesen Scheiß einfach lassen?
Bringt ihr sie morgen hin oder nicht?«
»Ich bringe sie hin«, sagte sie widerwillig.
»Das ist gut. Vielen Dank im Voraus. Oh, noch etwas, das hätte ich fast vergessen. Ich erwarte ein Päckchen. Es müsste am Montag mit der Post kommen. Kannst du’s für mich aufheben, bis ich es abhole?«
»Nun, ich denke schon.« Das klang so, als rechne sie mit einer Sendung von der Größe eines Kleinwagens.
»Danke. Kann ich jetzt Kelly sprechen?«
Im Hintergrund war Stimmengemurmel zu hören, als
sie aufstand und aus dem Wohnzimmer ging. Ich
wünschte mir, Kelly hätte ein Handy, aber ihres war kein Tri-Band-Handy, deshalb hatte sie es zu Hause gelassen.
Die Fernsehstimmen verstummten; dann wurde der
Telefonhörer übergeben, und ich hörte Atemzüge.
»Kelly?«
»Ich weiß, du kannst nicht kommen. Du musst
arbeiten. Was auch immer.«
»So ist es nicht. Ich sitze hier fest. Ich versuche, heute Abend zurückzukommen, aber wenn ich’s nicht schaffe, bringen sie dich zu Dr. Hughes, und ich versuche, ebenfalls hinzukommen. Tut mir Leid, ich versuche, hier rauszukommen, ich tue wirklich mein Bestes.«
Das alles hatte sie schon oft gehört. »Klar, was auch immer. Willst du jetzt mit Granny reden?«
»Nein, ich will nur mit dir reden.«
»Was gibt’s da noch zu reden? Vielleicht sehen wir uns morgen, was?«
Die Verbindung brach ab. Ich verstand ihre Reaktion, aber ich war trotzdem sauer. Als ich noch mal anrief, meldete sich Carmen. Ich erzählte ihr, was sie über den Termin bei Hughes wissen musste, dann beendete ich das Gespräch.
Ich stieß aus der Parklücke, um zum nächsten
Einkaufszentrum zu fahren, und hielt unterwegs weiter Ausschau nach dem Volvo.
Nachdem ich im Superdrug eine Tragetasche voll
Wasch- und Rasierzeug und eine schwarze Bauchtasche gekauft hatte, betrat ich das Schreibwarengeschäft an der Ecke, das auch eine Postfiliale war, und kaufte einen Filzschreiber und eine A4-Luftpolstertasche. In die Versandtasche kamen mein auf den Namen Nick Stone ausgestellter Reisepass, meine Geldbörse mit den
Citibank-Kreditkarten und alle übrigen Kleinigkeiten, die mit Nick Stone zusammenhingen, auch der Schlüssel zu Carmens Haustür. Ich hasste es, wenn die Firma einem die echten Papiere wegnahm: Das kam mir vor, als
verlöre ich meine Persönlichkeit, mein eigenes Leben; ich fühlte mich exponiert, wehrlos. So wusste ich wenigstens, wo sie waren, und wenn alles wie geplant klappte, würde ich bald
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