Nick Stone 06 - Feind ohne Namen
nach St. Pancras und King’s Cross führenden Bahngleise ruhten, wurde eben freigelegt. Aber mich interessierte nicht das viktorianische Mauerwerk, sondern die Gerüste. Hier mussten ein paar überzählige Klemmen herumliegen - oder es gab irgendwo ein Lager dafür. An jeder Zufahrt zur Baustelle standen Chemietoiletten, aber Wachleute waren keine zu sehen - sie hockten bestimmt in einem der Bürocontainer und sahen sich auf Channel Five Pornofilme an.
»Hey, da liegt was für uns.« Suzy hatte etwas Brauchbares entdeckt. Sie führte mich auf den Gehsteig gegenüber, schlang mir die Arme um den Hals und flüsterte mir ins Ohr. Das gefiel mir allmählich. »Zeit für eine deiner legendären Schmusereien, Romeo. Gleich hinter dem Zaun liegt Zeug, das wir vielleicht brauchen können.«
Wir umarmten uns, und ich sah mich um. Überwachungskameras schien es hier keine zu geben. »Okay, dann los!«
»Du bist der letzte große Romantiker, was?«
Ich ging in die Hocke und griff durch die grobmaschige Absperrung aus Baustahlmatten. Wenige Sekunden später waren meine Jackentaschen von einem halben Dutzend Stahlklemmen ausgebeult, während wir Arm in Arm auf dem Weg zu unserem Auto waren. Einige waren dreieckig, manche rechteckig, aber alle würden ihren Zweck erfüllen.
»Der Boss muss wissen, was wir machen, Nick. Zeit für einen weiteren Lagebericht.«
Sie hatte natürlich Recht. Eine der Bogenbrücken wies Nischen auf, die in Gladstones Jugend wahrscheinlich als elegant gegolten hatten, aber heutzutage nur von Leuten benutzt wurden, die pinkeln oder in aller Ruhe einen Joint rauchen wollten. Ich trat in eine davon, um für ein paar Minuten aus dem Regen herauszukommen.
»Nur noch eine Kontrolle.« Ich zog die 9-mm- Browning aus dem Hosenbund, hielt sie an meinen
Bauch gepresst und zog mit der anderen Hand den Verschluss so weit zurück, dass ich eine Messinghülse blinken sehen konnte. Suzy folgte meinem Beispiel.
Ich schaltete das Nokia ein, und diesmal wartete der Jasager das Piepsen, das eine abhörsichere Verbindung anzeigte, nicht ab, sondern legte sofort los: »Was machen Sie? Wo sind Sie?«
Hinter ihm waren weitere Stimmen zu hören. Zwei klangen amerikanisch. Die dritte konnte ich nicht gleich einordnen. Ein skandinavischer Akzent? Aber was kümmerte mich das? Ich hatte genügend andere Sorgen.
Die Stimmen wurden leiser, als entferne der Jasager sich von ihnen.
»Wir holen jetzt unsere Taschen und gehen damit zum Zielgebäude. In weniger als einer halben Stunde müssten wir dabei sein, uns Zutritt zu verschaffen.«
»Wo liegt der Eingangspunkt?«
»Kommt das Signal noch immer aus dem Gebäude?«
»Natürlich. Wo liegt der Eingangspunkt?«
Ich sagte es ihm, und der Jasager wirkte ausnahmsweise nervös. »Wissen Sie bestimmt, dass das funktioniert?«
»Nein.« Alles andere wäre gelogen gewesen.
»Was haben Sie vor, wenn Sie dort nicht reinkommen?« Seine Stimme klang geradezu hektisch. Offenbar stand er unter starkem Druck, und ich stellte mir gern vor, dass in seinem Genick ein schöner neuer Furunkel heranwuchs. »Ich kann’s mir nicht leisten, kompromittiert zu werden - ich will nicht in den Morgennachrichten von Ihnen hören. Sie bringen sich ohne Rücksicht auf Verluste in den Besitz von Dark Winter, verstanden?«
Die amerikanischen Stimmen kamen wieder in Hörweite, und diesmal hörte ich, dass der dritte Mann nicht mit skandinavischem, sondern mit deutschem Akzent sprach.
»Hören Sie bis Tagesanbruch nichts von uns, wissen Sie, dass es ein Problem gegeben hat. Ich rufe Sie anschließend an.« Ich unterbrach die Verbindung. Ich hatte keine Lust, die ganze Nacht hier zu stehen, während er mir erklärte, was ich zu tun hatte. Dabei war er selbst nie im Einsatz gewesen: Er hatte sein gesamtes Berufsleben vor Monitoren verbracht und sich um Nachrichtenverbindungen und ähnlichen Scheiß gekümmert. Mir seine drittklassigen Ideen anhören zu müssen, hätte mich sauer gemacht, und ich wollte nicht sauer sein - ich wollte nur besorgt und etwas ängstlich sein. Gesunde Angst konzentrierte den Blick aufs Wesentliche und ließ mein Gehirn auf eine Größe schrumpfen, die nur noch Gedanken an den Einsatz zuließ - und wie ich ihn unversehrt überstehen konnte. Was hatte Josh früher behauptet? »Mut ist nur Angst, die ihr Gebet gesagt hat.«
Wir traten wieder ins Licht der Straßenbeleuchtung und in den Regen.
»Was hat er gesagt?«
Ich betrachtete ihr Gesicht und wünschte mir, es sähe ein
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