Nickel: Roman (German Edition)
Schuhe klackten laut auf dem gefliesten Boden. Ein paar Zombies waren aus dem gleichen Grund wie ich hier: Sie brauchten einen Ort, wo sie anonym ihre Post empfangen konnten, hatten Geheimnisse, die ihnen wichtig genug waren, um sie diskret zu übermitteln. Ich ging an einem Mann in einem Flanellhemd vorüber und er schenkte mir ein irres Grinsen. Ich erwiderte es nicht. Die Show, die ich sonst immer abzog, um den Anschein zu erwecken, es sei ganz normal, dass ein Junge wie ich abends in der Post war, war zum Teufel; ich hätte nicht einmal einen Blinden getäuscht. Ich war völlig außer Fassung. Vielleicht lag es an dem Kampf am Nachmittag, vielleicht auch an Shelby. Egal, was es war, es war nicht richtig. Ich schloss mein Postfach auf und fand einen einzelnen Umschlag. Keine Absenderadresse. Ich faltete ihn und schob ihn zu meinemPager in die Tasche. Dann ging ich schnellstens hinaus und nahm die Kette vom Fahrrad ab.
Der Irre von drinnen wartete in einem Pick-up auf mich. Die Scheiben waren heruntergelassen. Er streckte den Kopf durchs Beifahrerfenster und sagte: »Was treibst du denn so spät hier?«
»Ich hole die Post für meinen Vater. Er ist krank.«
Damit hatte ich die Eckdaten vorgegeben: Es gab einen Vater und ich würde vermisst werden.
»Willst du mitfahren? Du kannst dein Rad hinten reinwerfen.«
»Nein, ich hab’s nicht weit. Aber danke.«
Ich würde bald vermisst werden.
»Okay.«
Er fuhr davon, zu meiner Erleichterung in die andere Richtung. Mit klopfendem Herzen rollte ich vom Parkplatz. Dann trug der Wind ein Motorengeräusch von hinten zu mir. Mist. Ich sah mich um – derselbe Pick-up, mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Ich fuhr über einen kleinen Hügel, das Motorengeräusch verklang, und dann fuhr ich bergab, so schnell ich konnte.
Ich nahm die erste Seitenstraße, bog rasch nochmals rechts ab und fuhr in die Einfahrt eines dunklen Hauses. Neben dem Haus lag ein Stapel Feuerholz und ich duckte mich dahinter. Das Fahrrad ließ ich vor dem Stapel an einer Stelle liegen, auf die kein Licht fiel. Der Pick-up fuhr vorbei, machte kehrt und verschwand. Ich richtete mein Fahrrad auf und fuhr weiter.
Meine Hände auf dem Lenker zitterten und ich atmete flach. Eigentlich hatte ich zu recherchieren, aber ich war dazu jetztnicht in der Lage. Ich stellte das Fahrrad ab und ging hinein. Ich sah nicht einmal in den Umschlag; ich setzte mich einfach auf die Couch. Dort wurde ich morgens wieder wach, vollständig angekleidet, die Fäuste geballt. In der Nacht war ich dreimal angepingt worden, ohne dass ich es gehört hatte. Der erste Anrufer war Gary gewesen – die anderen beiden würden warten müssen.
Kapitel 8
Ich stöpselte Leitung eins ein und rief Gary an. Er meldete sich beim dritten Klingeln. »Nickel?«
Gary wusste es eigentlich besser. »Nicht auf dieser Leitung.«
»Kannst du mich auf dem Handy anrufen?«
»Klar. Wann?«
»Jetzt. Ich muss jetzt mit dir reden.«
Scheiße. »Okay. Gib mir eine halbe Stunde.«
Ich legte auf und sah auf dem Pager nach, wer sonst noch beschlossen hatte, mir den Tag zu versüßen. Arrow und eine Nummer, die ich nicht kannte. Sie würden warten müssen. Ich aß ein paar Cracker und ging in die Garage; eine Dusche und frische Klamotten würden auch warten müssen. Dann ging ich doch noch einmal ins Haus, putzte mir die Zähne, ging wieder hinaus, setzte mich aufs Fahrrad und machte mich auf den Weg. In zehn Minuten war ich an der Tankstelle.
Rasch sah ich mich um. Da waren ein paar Normalbürger, die tankten, und ein gelangweilt aussehendes schwarzes Mädchen, das in dem kleinen Häuschen eine Zeitschrift las. Niemand schien sich auch nur im Geringsten für den Jungen in derzerknitterten Kleidung zu interessieren, der eine Dusche brauchte. Ich steckte einen Vierteldollar in den Schlitz des Telefons und rief Gary an.
»Nic…«
»Stopp.«
Er war nervös. Gary war sonst nie nervös. Allmählich fühlte ich mich selbst ein wenig unter Druck.
»Tut mir leid. Ich bin gestresst.«
»Was ist los?«
»Ich wäre fast erwischt worden.«
»Wie?«
»Ein Junge, an den ich verkaufe, ist aufgeflogen und hat mich verpfiffen. Kannst du das glauben?«
Doch, ich konnte. Es fiel mir überhaupt nicht schwer, das zu glauben. »Hattest du was dabei?«
»Nein, aber ich habe fast zwei Unzen zu Hause. Sie haben meinen Spind durchsucht. Der Direktor wollte schon die Cops rufen!«
»Irgendwas in deinem Auto?«
»Nein. Ich hab alles gemacht, was du gesagt hast.«
»Wo
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