Nickel: Roman (German Edition)
dir das Ohr abzureißen. Willst du für den Rest deines Lebens immer erst den Kopf drehen müssen, wenn du dich unterhalten willst?«
Ich warf einen Blick zu dem Typen mit der lädierten Nase. Er starrte angestrengt aufs Pflaster zu seinen Füßen. Der auf der rechten Seite war verschwunden.
Ich ließ das Ohr los, und er tastete danach, um sich zu vergewissern, dass ich es nicht als Andenken mitnahm. Ich sagte: »Geht nach Hause.«
Er rieb sich ein paarmal das Ohr, und ich sah, dass er kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. Dämliche Schlägertypen. Die Jagd im Rudel war nur dann sicherer, wenn man Kinder zusammenschlug, die sich nicht wehrten.
Ich wandte mich wieder dem Typen mit der blutigen Nase zu. Er ließ sie los, ballte die Fäuste und ließ das Fahrrad fallen. Innerlich seufzte ich und hörte Rhino mit seinem starken Akzent sagen: »Versetz ihm Aufwärtshaken aus der Hüfte; dreh dich beim Schlagen.« Äußerlich verwandelte ich diese Nase von einer BMX-Rampe in einen Skilift. Er ging tatsächlich heulend zu Boden. Versteht mich nicht falsch, ich bin kein Held, aber die Kinder heute, die haben einfach keine Eier. Ich ließ ihn auf dem Pflaster liegen. Der von der linken Seite starrte ihn nur an.
Ich ging zurück zur Brücke. Das Blatt hatte sich gewendet. Ich lehnte das Fahrrad an die Leitplanke und schaute hinab auf zertrampeltes Gras. Vorher war es um ein Haarband und eine Absicht gegangen, aber jetzt kam mir der Gedanke, dass der Entführer vielleicht zurückgekehrt war. Pech gehabt. Ich hatte eindeutig zu viel von meiner Stadt erwartet. Anstelle eines einzelnen Stiefelabdrucks waren da jetzt etwa tausend Waffelsohlenabdrücke von Cops, und glaubt mir, seit ein paar Tagen kannte ich mich mit Schuhen aus. Was für Vollidioten. Ich ging zum Fluss und wieder zurück. Alle Spuren, die sie womöglich übersehen hatten, waren jetzt zertrampelt.
Ich richtete das Fahrrad auf und fuhr nach Hause. Ich hatte immer noch diesen metallischen Geschmack im Mund; das Gefühl, etwas beinahe begriffen zu haben, aber ich verdrängte es. Beinahe begriffen konnte warten und Shelby hoffentlich auch. Es war eindeutig Sweatshirt-Wetter, und der Umstand, dass die Sonne allmählich den Himmel verließ, war auch keine große Hilfe. Ich hätte schwören können, dass es täglich kälter wurde, wenn nicht sogar stündlich. Zu Hause angekommen stellte ich das Fahrrad in die Garage, zerrte es aber gleich wieder heraus – ich hatte die Post vergessen. Ich machte mich auf in die Dunkelheit.
Kapitel 7
Wie die meisten öffentlichen Gebäude macht auch die Post bei Einbruch der Dunkelheit eine Verwandlung durch. Bei der Post bedeutet das Widerlinge und Aliens, Typen, die aussehen wie wir, sich aber zu uns Normalos so verhalten wie wir uns zu unseren Haustieren. Sie halten sich sklavisch an die Rolle des Normalbürgers und Gesellschaftsmitglieds, und wir beobachten, wie sie es sich gut gehen lassen oder sich abstrampeln. Meistens müssen sie sich abstrampeln; hin und wieder klettert einer auf einen Uhrenturm und führt Krieg gegen Menschen, die sich nicht wehren können, wie 1966 in Austin. Wenn das Erfolg ist, dann will ich ihn nicht. Ich lebe lieber. Alles lieber als das.
Die Post war kalt und dunkel, aber nicht verlassen. Wenn es ein Gebäude gibt, in dem einem unheimlich wird, dann die Post nach Schalterschluss. Das Gebäude ist voller Irrer. Ich weiß nicht, ob das so beabsichtigt war, aber sie haben das Ding gebaut, also kommen diese Typen. Normalerweise gehe ich dem aus dem Weg, aber wenn ich an einem Fall arbeite, klappt das nicht immer. Einen Tag auszulassen war nicht dasEnde der Welt, aber es stresste mich total. Hier kam ich der Öffentlichkeit am nächsten und mir war nie wohl dabei.
Ich bleibe für mich, aus eigener Wahl und nach eigener Maßgabe; ich mache mich gerade so verfügbar, wie die Welt es verlangt. Unglücklicherweise muss ich auch Geld verdienen. Ich schob mein Fahrrad in den Fahrradständer und atmete tief durch, um mich zu wappnen. Es funktionierte nicht, also versuchte ich es noch einmal. Zwecklos. Ich ging hinein.
Nachts ist die Beleuchtung anders als tagsüber. Es ist nicht direkt eine Notbeleuchtung wie im Krankenhaus oder in Schulen, aber viel besser ist sie nicht. Sie erzeugt lange Schatten. Die Waren – Kartons und billiges Knautschspielzeug – waren alle weggesperrt. Eigentlich taugte das Gebäude nur zum Aufgeben von Briefen, dem Kaufen von Briefmarken und dem Leeren des Postfachs.
Meine
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