Nicodemus
Nicodemus ergriff seine Hand. John schwieg.
Und in der Stille hörten sie, wie der Wind durch das raschelnde Laub pfiff. Irgendwo, weit entfernt, schrie eine Krähe.
Mit feuchten Augen sah John ihn an. »Und dir, Nico, geht es dir gut?«
Nicodemus versuchte erst gar nicht, seine eigenen Tränen zu verbergen. »Nein«, sagte er. »Nein.«
Kapitel 37
Vor Shannons Zellentür schrie ein Mann, als ginge es ihm an den Kragen.
Der alte Zauberer versuchte aus dem Bett zu springen, doch die Magnusfesseln rissen ihn unsanft zurück.
Er war immer noch angekettet.
Noch lästiger jedoch waren ihm die Zensortexte um seinen Kopf, die ihn seiner Möglichkeiten beraubten und in schwindelerregende Dunkelheit hüllten. Die vollkommene Blindheit machte ihm zu schaffen.
Wieder ertönte ein Schrei. Vorsichtig setzte Shannon die Beine über die Bettkante und rückte sich sein Gewand zurecht. Er würde seinem Ende mit Würde entgegenblicken.
Ein dumpfer Schlag drang von der Tür herein. Shannon zuckte nicht einmal mit der Wimper. Wieder war ein Schlag zu vernehmen, diesmal begleitet vom Geräusch berstender Magnussätze.
Shannon strich sich die Filzlocken glatt und fuhr sich noch einmal über den Bart. Beim nächsten Schlag würde die Tür nachgeben.
Der Stille folgte das Klappern schwerer Stiefelabsätze.
»Wie unvorsichtig von Euch, in Eurem richtigen Körper hier zu erscheinen«, sagte Shannon so gefasst wie möglich. »Wenn Ihr mich getötet habt, werden die Wächter von Eurer Existenz wissen.«
»Euch töten?«, fragte Fellwroth belustigt. Shannon spürte einen Luftzug neben sich. »So einfach mache ich es Euch nicht, Magister. Kommt.«
Auf einmal war Shannon auf den Beinen, suchend streckte er die Hände aus und wurde von Fellwroth an den Fesseln fortgerissen.«
»Ich bin Euch zu nichts nütze«, rief Shannon aus. »Der Junge ist verschwunden, und Ihr werdet nie erfahren, wer …«
»Nicodemus Weal befindet sich südlich von hier in den Wäldern«, schnarrte Fellwroth. »Ja, ich weiß, wer er ist. Ich könnte ihn natürlich auch aus seinem Versteck zwingen, aber das würde im günstigsten Fall eine sehr zeitaufwendige Jagd nach sich ziehen, und im schlimmsten Fall würde der Welpe dabei noch umkommen.«
Sie bogen um eine Ecke, und Shannon stolperte plötzlich eine Treppe hinauf. »Ich wüsste nicht, wie ich ihn finden sollte«, sagte der Zaubermeister und kämpfte gegen den Schwindel an, den die Zensortexte verursachten.
»Magister, Ihr seid ein erbärmlicher Lügner«, keuchte Fellwroth. »Ich werde Euch freilassen, und Ihr werdet dem Jungen eine Nachricht von mir überbringen.«
Shannon schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich könnte, würde ich es nicht tun.« Die Stufen endeten und sie liefen wieder einen Gang entlang.
Fellwroth schnaubte. »Meint Ihr etwa, ich durchschaue Euch nicht? Solange Ihr Euch von mir verfolgt glaubt, würdet Ihr nie zu ihm gehen. Doch ich werde Euch nicht folgen. Verwischt Eure Spuren, geht kreuz und quer. Durchkämmt den Wald nach einem Peilzauber. Ihr werdet nichts finden. Und wenn Ihr Euch davon überzeugt habt, dann bringt dem Jungen meine Botschaft.«
Ein kalter Wind strich Shannon übers Gesicht. Sie waren ins Freie getreten.
»Das ist der Anfang vom Ende«, krächzte Fellwroth. »Mir ist es gleich, ob die Wächter von mir wissen. Jetzt spielen wir unser Spiel in den Wäldern vor Starhaven. Sollten die Zauberer Nicodemus vor mir finden und ihn hierher zurückbringen, könnte ich ihn mit Leichtigkeit aus einem der Verliese herausholen. Und genau das werdet Ihr dem Jungen mitteilen: Ihr und er werdet nach Starhaven zurückkehren und Euch in die Obhut der Wächter begeben. Mit Hilfe eines Sandgolems werde ich Euch dann befreien.«
»Warum sollten wir das tun?«
Fellwroths Schritte hallten dumpf wider. Shannon runzelte nachdenklich die Stirn: Befanden sie sich etwa auf der Zugbrücke?
»Noch spürt Ihr nichts, Magister«, zischte der Dämon, »doch ichhabe Euren Magen mit einem Geschwulstzauber belegt. Ungewollt werdet ihr gefährliche Textmengen produzieren. Doch habe ich den Fluch so abgewandelt, dass er sich nur sehr langsam ausbreitet. Ich nenne ihn Logorrhö. Er wird Euch nicht binnen einer Stunde töten, nicht einmal binnen eines Tages. Aber der Schwulst wird immer weiter anwachsen, bis Eure Magenwände reißen. Wenn Ihr Glück habt, werdet Ihr dem Fieber erliegen, ansonsten werdet Ihr Eure eigenen Eingeweide verdauen.«
Shannon hörte den Wind in den Bäumen rauschen.
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