Nicodemus
tun, die ich nicht tun möchte.« Mit angstgeweiteten Augen sah sie ihn an.
Nicodemus spürte, wie er kalte Hände bekam. »Obwohl es fürEuch ganz leicht gewesen wäre, habt Ihr mich bislang nicht entführt, Deidre. Eure Göttin muss wissen, dass es töricht wäre. Fellwroth würde uns in jedem Fall finden.«
Deidre presste eine zitternde Hand an ihr Kinn. »Bevor ich Kyran begegnet bin, war ich mir in allem so sicher. Deshalb wurde ich auch von allen ›Deidre, die Spöttische‹ genannt. Vielleicht ist es dir auch schon einmal aufgefallen. Früher habe ich dieses spöttische Lächeln wie eine Rüstung getragen. Meine Liebe zu Boann war so unerschütterlich, dass ich mich über die Sterblichen mit ihrem ewigen Zagen und Zaudern einfach nur amüsiert habe. Doch nun ist mir dieses Lächeln ein für alle Mal vergangen.«
»Bei unserer ersten Begegnung habe ich Euch so lächeln sehen.«
»Willig habe ich jedes Opfer gebracht, das Boann von mir forderte«, fuhr sie unbeirrt fort, »ich habe meinen Mann, meine Söhne und jegliche menschliche Gesellschaft hinter mir gelassen. Solange ich mir der Liebe von Boann sicher war, habe ich sie nicht vermisst. Doch jetzt … jetzt, da Kyran meinetwegen gestorben ist …«
Sie kniff die Augen zusammen. »Und dann diese grauenhaften Albträume – immer wieder träume ich, dass ich am Flussufer stehe und von einem Wolf mit Menschenkopf und glühend roten Augen erstochen werde.«
Abrupt fuhr Nicodemus auf. »Etwa an einem Fluss im Hochland?«
Deidre nickte.
Aufgeregt begann Nicodemus auf sie einzureden. »Fellwroth hat Taifon in einem solchen Fluss getötet; er hat den Dämon mit einer Art Zauberstab in Stücke gehackt. Ich habe es gesehen, als der Golem mich berührte. Und unterwegs auf der Gebirgsstraße hat Fellwroth behauptet, Taifon hätte versucht, eine unbedeutendere Gottheit zu infizieren. Vielleicht ist das deine Göttin gewesen.«
Deidre sah ihn an. »Auf diese Weise muss Boann auch von dir erfahren haben. Schließlich ist sie die Herrscherin über die Hochlandflüsse; sie muss Fellwroth bei seinem Verrat beobachtet haben. Und irgendwie hat sie dann dem toten Dämon Wissen über dich abgerungen. Deshalb hat sie mir wohl auch solche Visionen geschickt. In mir steckt so viel von Boanns Seele, dass sie sich außerhalb ihresSchreins nicht mehr mitteilen kann. Sie kann sich mir nicht mehr direkt mitteilen, außer« – sie blickte an sich hinunter – »durch diesen Körper.«
Wieder ging es Nicodemus durch den Kopf, wie sehr Deidre ein Opfer der Liebe war. Dann dachte er im gleichen Atemzug an John, der ebenfalls aus Liebe gehandelt hatte, ihn beschützen wollte, und nun unvorstellbar litt, weil er auch Devin geliebt hatte. Er dachte daran, was Deidre Kyran angetan, und was Kyran sich selbst angetan hatte.
Behutsam legte er Deidre die Hand auf die Schulter. »Ihr habt aus Liebe gehandelt.«
Deidre ließ ein sarkastisches Lachen erklingen. »Sei doch nicht so ein heilloser Romantiker. Es gibt nichts Grausameres als die Liebe. Meine Liebe zu Boann hat die Liebe zu Kyran und schließlich auch Kyran selbst zerstört.«
»Er hat es nicht anders gewollt.«
Wieder lachte sie bitter. »In dieser Hinsicht waren wir uns sehr ähnlich, beide haben wir zu sehr geliebt. Wir alle lieben zu sehr.« Sie schloss die Augen. »Liest du mir jetzt Kyrans letzte Worte vor?«
Nicodemus sah auf den mattgrünen Satz in seiner linken Hand hinunter. Er war so einfach, dass ihm selbst sein kakographischer Geist nichts anhaben konnte: »Ich habe dich immer geliebt und werde dich ewig lieben.«
Er las die Worte laut.
Deidre lehnte sich vor, ließ das Kinn auf die Brust sinken. Ein leises Lächeln lag auf ihren Lippen, doch diesmal war von Spott keine Spur. Bleich und maskenhaft war ihr Gesicht und sie zitterte leicht.
Nicodemus drückte ihre Hand, und sie zog ihn in ihre Arme.
Als Nicodemus Stunden später erwachte, war der Sonnenstreifen auf den Stufen verschwunden und das fahle Licht der Dämmerung kam hereingekrochen.
Alle drei hatten in der entlegensten Ecke des Raumes geschlafen. Dicht neben Nicodemus lag der Index, auf der anderen Seite lag John, der ihn jetzt angstvoll ansah.
»Nico«, flüsterte er, »du weißt doch, dass Taifon mich zu allem gezwungen hat?«
Nicodemus bejahte, und der Hüne schloss die Augen und seufzte tief.
»Geht es dir gut, John?«
John presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er und Tränen stiegen ihm in die Augen.
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