Nicodemus
darüber nachgedacht, welcheFolgen Eure neue Fähigkeit hat. Strengt Euch ein wenig an. Euer Geist schreibt eugraphische Runen in Eurer Nähe einfach um, auf diese Weise sind auch die Nachtwesen aus Euren kindlichen Träumen entstanden. Doch die Ursprache ist keine eugraphische Sprache, ihre Rechtschreibung ist unlogisch und redundant. Was geschieht, wenn Ihr derartige Texte berührt?«
Die Erkenntnis traf Nicodemus wie ein plötzlicher Schlag in die Magengrube. Zunächst brachte er kein Wort hervor. Sein Herz begann zu rasen und seine Zunge fühlte sich schwer und ledrig an. »Ich … verschreibe sie.«
Mit leiser und tieftrauriger Stimme sprach die Chimäre: »Seht Euch den Nachtfalter an.« Eine Kugel aus sanftem weißem Licht schwebte neben Nicodemus’ Hand.
Er schaute auf den Falter und schrie entsetzt auf.
Zuvor war er ein zartes Wesen mit pelzigem Körper, großen schwarzen Augen und gefiederten Antennen gewesen. Die breiten, hauchdünnen Flügel waren cremefarben mit schillernden gelb-schwarzen Augenflecken.
Doch das Tier, das nun auf Nicodemus’ Finger saß, war ein schwarzer, klumpiger Kadaver, dessen Leib winzige entzündete Geschwüre aus abgestorbenem Gewebe wie Parasiten überzogen.
Nicodemus stieß einen neuerlichen Schrei aus. Durch seine neue Gabe erkannte er, auf welche Weise sein kakographischer Geist den Primustext des Falters umgestaltet hatte, so dass ihm diese monströsen Beulen gewachsen waren.
Angewidert zog er die Hand zurück und ließ das tote Tier fallen. Nicodemus schwebte wieder in vollkommener Dunkelheit.
»Das war ein Geschwulstzauber, nicht wahr?«, fragte er keuchend. »Ist das der gleiche, mit dem Fellwroth Magister Shannon belegt hat?«
Chimära gab ihm keine Antwort. Das war auch nicht nötig, denn Nicodemus wusste auch so, dass er recht hatte.
»Jedes lebendige Wesen, das ich berühre, werde ich verschreiben«, dachte er laut. »Meine Berührung wird sie mit Fehlern infizieren. Wo ich auch gehe und stehe, werde ich unkontrollierte Wucherungen verbreiten.« Ihm war, als würde er gleich ohnmächtig werden.
Die Chimäre schnaubte. »Nicht jede Veränderung, die Ihr auslöst, wird gleich zu Geschwülsten führen. Manche Veränderungen werden ohne jede Auswirkung bleiben, andere können sogar heilsam sein. Doch nun …« Sie zögerte und gab erneut ein leises Seufzen von sich. »Nun kennt Ihr den Preis, den ich Euch abverlangt habe.«
»Das tue ich«, antwortete Nicodemus und hielt sich den Bauch. »Ihr habt gesagt, vielleicht könnte ich lernen, Shannon von seinem Fluch zu befreien. Ihr habt nie versprochen, dass ich dazu auch imstande sein würde.«
»Es besteht noch Hoffnung. Im Moment breiten sich die Geschwüre in seinem Magen netzartig aus. Wenn Ihr ihn berührt und Euch dabei konzentriert, könnt Ihr die Wucherungen vielleicht zu einem einzigen Klumpen zusammenfügen …«
Nicodemus fiel ihr ins Wort. »… den Deidres Göttin möglicherweise entfernen kann. Auf diese Weise könnte Shannon doch noch gerettet werden.«
»Eigentlich kann ich nicht behaupten, dass Ihr mich betrogen habt«, sagte er nach einer Weile. »Mein Magister hat so eine reelle Überlebenschance. Ich hätte Euren Bedingungen sogar zugestimmt, wenn ich gewusst hätte, dass sie mich zu einem Monster machen.«
Schlagartig kam ihm eine Idee. »Und wenn ich den Smaragd von Arahest von Fellwroth zurückbekäme?«
Dunkelheit wogte um ihn her. Nicodemus spürte, wie die Chimäre um ihn herumschwamm. Sie sagte: »Das wäre mir nicht recht.«
»Aber wenn ich meine Fähigkeit, fehlerfrei zu schreiben, zurückerlangte, dann würde ich nicht automatisch mit jeder Berührung Schwulst verbreiten. Ich könnte ein Primuszauberschreiber werden, wie jene aus dem Solaren Reich. Chimära! Fellwroth behauptet, es gäbe keinen Halkyon, aber dennoch könnte ich mit Primus gegen die Separatisten kämpfen.«
Die lichtlosen Wellen legten sich. »Wenn Ihr diesen Teil Eurer selbst zurückgewinnt, werdet Ihr im Kampf gegen die Dämonen nutzlos sein.«
»Wie kann das sein?«
Abermals begann sie ihre Kreise um ihn zu ziehen. »Fellwroth versucht,die ganze Wahrheit über die Prophezeiung vor Euch zu verbergen.«
»Der Golem hat gesagt, alle Prophezeiungen seien falsch.«
»Alle Prophezeiungen der Menschen sind falsch«, korrigierte sie ihn. »Und in dieser Hinsicht hat Euch der Golem die Wahrheit gesagt. Dass die Mitglieder Eurer Familie nichts weiter sind als Schachfiguren, die von der einen oder anderen Seite
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