Nicodemus
Shannon«, rief Deidre vom Feuer herüber.
Nicodemus erhob sich. »Wie geht es dir, John?«
Der Hüne kauerte am Feuer, hielt sich vorsichtig die rechte Hand. »Gut«, sagte John bedächtig. »Mir geht es gut.« Er lachte. »Ich sage es immer wieder: Ein gebrochener Finger ist besser als ein Geschwulstzauber.«
Durch Azures Augen beobachtete Shannon ein Efeublatt, das im Wind zitterte. »Also gut, wenn wir uns schon in Gefahr stürzen wollen, tun wir es doch gleich, bevor es zu spät wird. Ich bin ein alter Mann und muss früh ins Bett.«
Niemand lachte.
Nicodemus ging vor ihrem Aufbruch noch einmal allein in den Wald. Sobald er weit genug vom Feuer entfernt war, dass ihn niemand mehr sehen konnte, brach er zusammen.
Er fühlte sich unendlich leer. Er war der Unglücksbote, das Monster.
Unerbittlich blies der Wind durch die Bäume. Über dem Blätterdach hing der kalte Himmel voll funkelnder Sterne.
Nicodemus stand auf und wanderte ziellos umher, bis er an einen Bach kam. Alles Lebendige erstrahlte für ihn in dem sanft zyanfarbenen Licht von Primus. So konnte er im Dunkel des Wassers den Glanz winziger Fische erkennen.
Er knüpfte aus einfachen Magnussätzen ein Netz und fing damit einen Jungfisch ein. Aufmerksam betrachtete er den winzigen Fisch im silbernen Netz, dann ließ er ihn in seine ausgestreckte Hand gleiten.
Das arme Ding zappelte umher, und jedes Mal, wenn die kalten Fischschuppen seine Haut berührten, veränderte sich der Primustext des Fisches. Nicodemus konnte förmlich spüren, wie seine Zauberkräfte den Prozess beschleunigten.
Innerhalb kurzer Zeit wuchs dem Fisch eine glänzende schwarze Geschwulst aus den Kiemen. »Es ist also wahr«, murmelte er, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Er tötete den Fisch mit einem flüchtigen Spruch und sah, wie das blaue Licht langsam verlosch. Es dauerte lange, sehr lange.
Schließlich ließ er das Tier fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Vor seinem inneren Auge glitzerte der Smaragd – klein, dunkel und wunderbar tränenförmig. Nicodemus versuchte sich ganz seiner Angst, seiner Wut und seinem Selbsthass hinzugeben, doch er empfand überhaupt nichts. Also stellte er sich vor, wie sich seine Gefühle in Licht verwandelten.
Dieses Licht ließ er in Gedanken in den Smaragd fließen, der nun zu leuchten begann. Je mehr er in den Stein hineingab, desto heller leuchtete dieser, bis sein Funkeln Nicodemus’ Körper zu durchdringen schien.
Wenn sich der Stein erst einmal in seinem Besitz befände, müsste er sich nicht mehr fürchten. Und weder Wut noch Hass für sich empfinden. Vereint mit dem fehlenden Teil seiner selbst wäre er kein Monster mehr.
Die bewaldeten Hügel am Fuße Starhavens fielen sanft über fünf oder sechs Meilen ab, bevor sie in die weitläufige Eichensavanne übergingen. An der Grenze zwischen den Ausläufern des Gebirges und dem Grasland verlief auch die Westernmost Road. Auf ihrem staubigen Weg von Norden nach Süden verband sie Dral im Norden mit Regenstadt im Süden.
Als Nicodemus und seine Gefährten aus dem Wald auf die Westernmost traten, standen bereits alle drei Monde am Himmel. Ihr gebündelter Glanz tauchte die Savanne in ein milchig blaues Licht. Den Index fest an sich gepresst betrachtete Nicodemus die vereinzelten Gehöfte und Eichen. Einige der Bäume waren schon tot und bestanden nur noch aus blattlosem Gerippe. Hüfthohes Savannengras erstreckte sich bis zum fernen Horizont. Und im Wind verwandelte sich die Savanne in ein riesiges rauschendes Wellenmeer.
Deidre war auf dem einzigen Pferd vorausgeritten, um nach Gefahr Ausschau zu halten. Dicht zusammengedrängt schleppten sich die drei Männer vorwärts, ihre Wangen gerötet vom Wind, der auch durch Nicodemus’ rabenschwarzes Haar peitschte. Azure plusterte immer wieder ihr Gefieder auf und ließ von Zeit zu Zeit ein tiefes klagendes Krächzen ertönen.
Nicodemus’ Keloid begann zu brennen. Zwar hatte Shannon die Narbe mit verzerrenden Numinuszaubern gespickt; aber dennoch stoben Primuspartikel in alle Himmelsrichtungen. Die Signale waren diffus und würden seinen genauen Aufenthaltsort nicht preisgeben, doch zumindest würden sie Fellwroth verraten, dass er aufgebrochen war.
Bei diesem Gedanken schlug Nicodemus das Herz bis zum Halse. Er machte die Augen zu und stellte sich so lange vor, wie er den Smaragd in Besitz nehmen und sich vom Unglücksboten in den Halkyon verwandeln würde, bis seine Entschlossenheit wieder Oberhand
Weitere Kostenlose Bücher