Nicodemus
gezogen werden, ist auch wahr, jedenfalls zum Teil.«
»Und was ist die ganze Wahrheit?«
»Die Menschen benutzten das Wort ›Prophezeiung‹ gleichbedeutend mit dem Begriff ›Vorsehung‹. Es gibt aber gar keine Vorsehung, denn nichts ist vorherbestimmt. In gewisser Weise kann man die Prophezeiung mit Regen vergleichen, der auf einen Berg fällt. Das Wasser fließt unweigerlich hinunter und sucht sich als Bach, Strom oder Fluss seinen eigenen Weg. In einer Welt, in der sich nichts verändert und alles gleich bleibt, ließe sich der Verlauf des Wassers genau berechnen. In einer unveränderlichen Natur könnte man durchaus voraussagen, dass dieser Regentropfen dazu bestimmt ist, in diesen See zu fließen, dieser Fluss ins Meer. Aber die Welt ist eben einem ständigen Wandel unterworfen.«
Die Chimäre verschnaufte kurz. »Außerdem könnten die Mächtigen Dämme legen, Kanäle ausheben, Wassermühlen bauen. Und genau das habe auch ich mit Euch getan, Nicodemus. Ich habe Euch in den Fluss geworfen, der gegen Los anströmt, und ich möchte, dass Ihr der König dieses Flusses werdet.«
Erneut wurde Nicodemus von einer Schwindel erregenden Furcht gepackt. Obgleich er wusste, was sie antworten würde, fragte er dennoch: »Und welchen metaphorischen Fluss habt ihr dabei im Sinn?«
»Euch erscheint die Welt als Schlachtfeld, auf dem Ihr und Euresgleichen gegen die Dämonen kämpfen. Aber Menschen, Götter und Dämonen sind nur Strömungen in einem Konflikt zweier weitaus größerer Kräfte: die der linguistischen Ordnung und des Stillstands; und die der linguistischen Abweichung und des Wandels. Den Zauberern ist die sprachliche Ordnung heilig, und sie hoffen auf Kräfte,die deren Stabilität gewährleisten. Aus diesem Grund erwarten sie sehnsüchtig den Halkyon, den Flusskönig der unveränderlichen Sprache. Alles soll in möglichst ruhigen Bahnen fließen. Fürchten tun sie sich vor dem Unglücksboten, dem Flusskönig der wechselhaften Sprache. In der Akademie fürchtet man sich vor den stürmischen Veränderungen des Unglücksboten. Indem man die Sprache bewahrt, wie sie ist, hält man sich auch die Dämonen vom Leib; das glauben jedenfalls die Zauberer.«
Nun zitterten Nicodemus’ Hände nicht mehr, vor Wut hatte er sie zu Fäusten geballt. »Und Ihr seid zu dem Entschluss gekommen, dass es gerade das Chaos und die Variationen sind, die die Dämonen aufhalten? Ihr habt aus mir einen Kämpfer für den Sprachwandel gemacht.«
Chimära knurrte: »Das Leben ist stetiger Sprachwandel, ein Wandel, der durch Fehler entsteht. Ohne Abweichungen in Primus sind wir verloren. Das habe ich James Berr aufgezeigt. Ich habe ihm aufgezeigt, dass er den Wandel, die Störung, die Originalität hervorbringen kann.«
»Originalität?«, stieß Nicodemus unter zusammengepressten Zähnen hervor. »Indem Ihr uns in Monster verwandelt?«
»Das Originelle, Ursprüngliche schafft einen neuen Ursprung. Per Definition muss das Originelle altbekannte Pfade verlassen. Es muss umherschweifen und Fehler machen. Meinetwegen werdet Ihr veränderliche Sprache schaffen, Ihr werdet sprachgutverändernd sein.«
Etwas Heißes presste sich gegen seinen Rücken. »KREATIVITÄT HAT IHREN URSPRUNG IM FEHLER !«, dröhnte Chimäras Stimme in seinem Ohr.
Blitzschnell fuhr er herum und versuchte sie zu packen. »Ihr sollt verdammt sein! Ihr habt mich erst zum Unglücksboten gemacht. Ihr habt mich in ein Monster verwandelt.« Nicodemus schlug mit den Armen wild um sich, doch fasste nur ins Leere.
»Ihr nennt den Fehler grotesk?«, fragte die Chimäre aus der Ferne. »Nennt das Originelle monströs? In diesem Sinne seid Ihr schon immer ein Monster gewesen und wart immer schon ein Kakograph. Das ist Eure wahre Natur, so wie es auch James Berrs wahre Naturwar. Er hat genauso mit diesem Schicksal gehadert wie ihr, und es hat ihn verzehrt. Wollt Ihr etwa Eure wahre Natur leugnen?«
»ICH BIN KEIN JAMES BERR !«, brüllte Nicodemus aus vollem Halse. »Und das werde ich auch nie sein. Ich bin nicht zwangsläufig eine Fehlerquelle. Ich hätte nie so sein sollen, auf mir lastet ein Fluch. Ich hole mir den Smaragd zurück, damit werde ich wieder heil, und dann werde ich der Halkyon.«
Fauchend antwortete Chimära: »Ihr mögt den Dämonen den Smaragd von Arahest entreißen, doch damit wäre Euer Leben nur eine einzige Lüge. Eurer Vergangenheit als Kakograph könnt Ihr nicht entkommen. Der Smaragd würde Euch nur bedingt zum Halkyon machen. Ihr solltet wissen,
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