Nicodemus
dass es bereits einen wahren Halkyon gibt.«
»Unmöglich!«
»Hat Euch Fellwroth nicht von der Allianz göttlicher Ketzer berichtet? Die abtrünnigen Gottheiten, die ebenfalls versuchen, einen kaiserlichen Abkömmling hervorzubringen?«
Nicodemus presste die Zähne zusammen. »Das Ungeheuer hat mir davon berichtet.«
»Dann solltet Ihr wissen, dass die Allianz Euch eine Halbschwester beschert hat, das zweite Kind Eurer Mutter. Noch ist sie ein Kind, doch eines Tages wird sie vielleicht der Halkyon. Ihr hingegen werdet es nie sein.«
Nun konnte Nicodemus seine gärende Wut nicht mehr länger zurückhalten. Er sammelte all seine Kräfte, formte scharfe Numinuskaskaden und schleuderte sie in die Richtung, aus der Chimäras Stimme kam.
Er stieß einen schrillen Schrei aus, als sich die leuchtenden Sätze in der Dunkelheit entfalteten. Die Worte der Wut brannten in glühendem Gold.
Und für einen kurzen Augenblick trat die Silhouette eines Wesens aus dem schwarzen Nebel hervor. Chimäras schier endloser Körper schwoll an und schlängelte sich windend und tanzend hin und her. An manchen Stellen glänzte ihre Haut so glitschig, als sei sie mit einer schwarzen Schleimschicht überzogen, während an anderen Partienknorrige, mit Schuppen überzogene Auswüchse aus dem Schlangenleib hervortraten.
Dann verpufften Nicodemus’ fehlerhafte Sätze und ließen nur noch goldene Fünkchen zurück.
Chimäras nächsten Worte trafen ihn wie ein Donnerschlag. »DANN ZIEHT DOCH LOS UND LEUGNET EURE WAHRE NATUR ! SUCHT DEN SMARAGD, EURE LAPIDARE LÜGE !«
Plötzlich fand sich Nicodemus wieder in seinem eigenen Körper und stolperte rücklings. Tränen schossen ihm in die Augen und er verspürte ein heißes Brennen in der Kehle.
Er schrie. Wortlos.
Als er aufs Steißbein fiel, durchschoss es ihn schmerzhaft. Er kippte nach hinten und starrte an die Decke.
»Nico!«, schrie John. Auf einmal stand der Hüne über Nicodemus gebeugt und wollte ihn bei der Schulter packen.
»Fass mich nicht an!«, brüllte Nicodemus und zog mit einer hastigen Armbewegung einen Magnuszauber hervor.
Blitzartig formierte sich der Zauber zu einer silbrig glänzenden Platte, die Johns Hand traf. Zwar zerschellte der fehlerhafte Text sogleich, doch er hatte bereits Johns Ringfinger gebrochen.
Mit einem Aufschrei ging John zu Boden.
Nicodemus rückte von seinem Freund ab. »BLEIBT ZURÜCK !«, rief er Shannon und Deidre zu, die herbeigeeilt waren.
Vor lauter Tränen konnte Nicodemus nichts erkennen, Speichel klebte ihm auf der Lippe.
»Niemand berührt mich!«, brüllte er. »Niemand wird mich jemals wieder berühren!«
Kapitel 41
Nicodemus ließ Shannon los, der sich sogleich umdrehte und Magnusausdrücke auf den Boden spie.
Die anderen schwiegen betreten, während er sich erbrach. Azure nahm dann wieder ihren Kontakt zu Shannon auf und schickte ihm ein Bild von Nicodemus, wie er neben ihm hockte. Und im Licht des Feuers wirkten Nicodemus’ Augen noch düsterer und verliehen ihm einen gehetzten Ausdruck.
»Nun?« Der alte Zauberer spuckte noch einen Rest übler Worte aus.
»Ich habe die Wucherungen zu einem einzigen Geschwür verdichtet, das jetzt oberhalb Eures Magens sitzt«, sagte Nicodemus leise. »Da ich mich nur auf diesen einen Text konzentriert habe, sind keine neuen Verwünschungen entstanden. Doch durch meine Berührung ist der Tumor noch bösartiger geworden.«
Shannon sah an sich hinunter. Tatsächlich floss ein kleines Rinnsal silbriger Prosa aus seinem Magen.
Der Wind hatte zugenommen und brauste immer heftiger durch die Baumwipfel.
»Wir müssen Euch schnellstmöglich zu Boann bringen«, sagte Nicodemus. »Nun kann sie den Fluch herausschneiden.« Er sah zu Deidre, die zustimmend nickte.
»Mir gefällt die Idee immer noch nicht«, murrte Shannon. Ihm ging nicht aus dem Kopf, in welcher Verfassung Nicodemus aus dem Bestiarium aufgetaucht war: tränenüberströmt und verängstigt, das Herz schwer vom Wissen um die Prophezeiungen und Primus. »Und wenn Fellwroth dort auf uns wartet?«
»Das ist nicht ausgeschlossen«, erwiderte Nicodemus kraftlos. »Aber es ist unsere einzige Chance. Chimära hat aus mir den Unglücksboten gemacht, einen Veränderer der Sprachen.«
Er hielt inne und schloss erschöpft die Augen. »Lieber will ich sterben, als so zu bleiben. Ein Bündnis mit Boann ist meine einzige Hoffnung. Und Boann ist auch Eure einzige Hoffnung, Magister. Nur sie kann das Geschwür entfernen.«
»Er hat recht,
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