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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Charlton
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Einesolche »Privatbibliothek« verstieß zwar gegen eine ganze Reihe von Akademiestatuten, aber da es sich um ein so weitverbreitetes Phänomen handelte, wagten weder die Dekane noch der Provost, auf die Einhaltung dieser Gesetze zu pochen.
    Vor fünfzig Jahren hatte der Neuankömmling Shannon Nora verdächtigt, ihn für seine Feinde im Norden auszuspionieren. Von den internen Machtkämpfen in Astrophell geprägt, war er damals noch recht ungestüm gewesen und hatte Noras Leben heimlich bis in den letzten Winkel ausgekundschaftet. Der Verdacht hatte sich zwar als unbegründet erwiesen, doch bei seinen Nachforschungen hatte er diese private Bibliothek entdeckt.
    Bedächtig fuhr Shannon mit den Fingern über die Tür. Da er blind war, konnte er die massive Kiefernvertäfelung nur fühlen.
    In diesem Fall spielte das aber keine Rolle, denn die Tür gab es in Wirklichkeit gar nicht. Sie war ein Tarntext: Prosa, die sich selbst dem geübtesten Blick entzog. Die meisten Zauberschreiber hatten Probleme, Tarntexte zu erkennen, wenn auch nur, weil sie sich auf ihre Augen verließen. Stieß man auf eine Tür, ließ das menschliche Gehirn zumeist nur eine einzige Schlussfolgerung zu, dass nämlich die Tür existierte. Nur wenn man die Intention des Verfassers kannte, konnte man als Leser hoffen, hinter die Erscheinung zu blicken und die wahre Bedeutung der Tarnung zu erkennen.
    Shannon hingegen war frei von der Macht der Augen. Er starrte in das Dunkel und überlegte, wie Nora diese Tarnung wohl geschrieben haben mochte. Er grübelte über ihren Stil. Währenddessen sah er blassgoldene Runen in Kolumnen angeordnet. Daraus konnte er nun auch ableiten, was zwischen den Zeilen stand. Die blassen Sätze erstrahlten. Allmählich gab der Text sein Hauptargument preis; und Shannon starrte auf einen türförmigen Wasserfall aus goldener Prosa, der mit silbrigen Sätzen durchwirkt war.
    Aus Gewohnheit knöpfte er die silbernen und goldenen Knöpfe entlang seiner Ärmel auf. Auch wenn seine Augen mittlerweile durch den Stoff hindurchsehen konnten, kam es ihm natürlicher vor, die Zauberrunen mit bloßen Armen zu schreiben.
    Zuerst schrieb er einen kurzen Gegenzauber und ließ ihn in dieHand gleiten. Dieser Gegenzauber bestand zwar aus mächtigen Numinusrunen, war aber dennoch leicht und zart. Weniger geübte Verfasser hätten wie der Bauer mit der Axt mit ihrem mächtigsten Gegenzauber auf den türförmigen Tarntext eingedroschen. Solch grober Stil hätte nur eine verstümmelte Tarnung zur Folge.
    Shannon hatte indes viel zu viele Jahrzehnte darauf verwendet, an seinem Stil zu feilen, als dass er jetzt derart offensichtliche Spuren hinterlassen wollte.
    Als der Gegenzauber fertig war, hielt Shannon ihn wie einen Pinsel, lehnte sich zur Tür vor und trieb die Schneide zwischen zwei ihrer Sätze.
    Langsam und unter sanftem Druck gelang es ihm, die oberste Textschicht abzulösen und zu den verworrenen Kernsätzen des Tarntextes vorzudringen. Zwei schnelle Hiebe, und einer der Absätze war durchtrennt.
    Als die goldenen Sätze sein Eindringen bemerkten, begannen sie mit einem hohen schleifenden Wimmerton umherzuwirbeln und versuchten sogar gegen Shannons Hand vorzugehen.
    Doch mit ruhiger Entschlossenheit fügte er zwei neue Numinussätze in den geteilten Absatz ein. Das Schleifgeräusch ließ nach und die Tarnung beruhigte sich wieder. Behutsam zog er die Hand heraus und die gläsernen Sätze glitten zurück in ihren Urzustand.
    Ein Lächeln huschte über Shannons Lippen. Nicht einmal der oberste Kanzler hätte jetzt erkennen können, dass sich jemand an dem Subtext zu schaffen gemacht hatte. Mit einem leisen Klicken wurde die Tür entriegelt und flog auf. Der kleine Raum dahinter war erfüllt von dem chromatischen Glanz einer magischen Bibliothek.
    Shannon sandte Azure einen kurzen Zauber, um zu fragen, ob ihr irgendetwas aufgefallen sei. Die Papageiendame verneinte und klagte über die späte Stunde. Amüsiert über ihre Bissigkeit ließ Shannon sie auf ihrem Posten auf dem Fensterbrett und betrat Noras Privatbibliothek. In solch buchstäblicher Umgebung brauchte er keine gewöhnliche Sehkraft.
    Der Raum war klein: fünf Fuß breit und zehn lang. Auch wenn Shannon die Regale entlang der Wände nicht zu sehen vermochte,erkannte er doch viele der dort befindlichen Schriften. Nora hatte den Textaustausch zwischen den Starhavener Wasserspeiern untersucht, ein Thema, das Einsicht in das Denken und Lernen magischer Geschöpfe gewährte.

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