Nicodemus
gestohlenen Wein tranken und Küsse tauschten.
Hier hatte er Amy Hern auch zum ersten Mal geküsst. Jahre war das jetzt schon her.
Nach einem kurzen Schneeschauer war es an jenem Abend sehr still geworden. Jeder ihrer Schritte hatte im Schnee geknirscht, jeder Atemzug eine zarte Federwolke hinterlassen. Mit seinem trüben Winterviolett hatte der Himmel das Geäst der Bäume in tiefstes Schwarz getaucht. Rauh hatten sich ihre Lippen angefühlt, heiß ihre Zunge.
Damals waren sie erst Akolythen gewesen.
Bei der Erinnerung an Amy zuckte Nicodemus unwillkürlich zusammen. Sie war nicht mehr Amy Hern, sondern Magistra Amaryllis Hern, eine Zauberin zweiten Grades in Starfall Keep. Seit ihrem Fortgang vor vier Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen. Und außer einer sehr unpersönlichen Notiz hatte er auch nie eine Antwort auf seine Briefe erhalten.
In einem lichten Augenblick begriff Nicodemus, dass er träumte. Er setzte sich auf und erwartete, sich in Shannons Federbett wiederzufinden, doch stattdessen saß er auf der Lichtung.
Rechts von ihm stand ein Neophyt. Der Junge hatte ihm den Rücken zugewandt und schaute hinüber zu den Espen.
Zwischen den bleichen Stämmen bewegte sich etwas Riesenhaftes. Die Erde erbebte von seinen Schritten. Sein Atem war tief, langsam und bestialisch.
Nicodemus versuchte aufzustehen, doch seine Beine waren bleischwer. Er fühlte sich wie im Rausch.
Das Ungeheuer trat hinter den Bäumen hervor. Nicodemus riskierte einen Blick, doch er konnte es nicht klar erkennen. Der Körper des Ungeheuers verschwamm zu einem wabernden Klumpen fahlen Fleisches. Beim neuerlichen Versuch, sich aufzurappeln, fiel er nur nach vorn ins Gras. Er schaute zu dem Ungeheuer auf, doch immer noch konnte er nichts klar erkennen.
Der Neophyt wandte sich um und lief los. Trunken kam Nicodemus auf die Knie. Genau in diesem Augenblick brach ein fleischiger Spieß aus dem Ungeheuer hervor. Er schnellte über die Lichtung und durchbohrte das Kreuz des Jungen. Das Kind lief weiter.
Nicodemus wollte schreien, doch er fiel bäuchlings zu Boden. Er hatte Sand in den Augen und versuchte ihn herauszureiben.
Mit einem Mal befand er sich nicht mehr auf der Lichtung, sondern in einer unterirdischen Höhle.
Quarzkristalle glitzerten von der Decke. Der Boden glänzte gleichmäßig grau. Auf dem schwarzen Steintisch vor ihm lag eine in ein bleiches Gewand gehüllte Gestalt. In den behandschuhten Händen hielt sie einen strahlend grünen Edelstein. Er hatte die tropfenartige Form einer Träne.
Da, am Rande des Lichtkegels, zuckte etwas. Ein kleines Wesen. Der ölig blauglänzende Rücken war mit sechseckigen Platten gepanzert – eine albtraumhafte Landschildkröte. Fauchend und stampfend bewegte sie sich fort. Aus ihren Fußstapfen sprossen dunkle Ranken hervor, die sich zu Wildem Wein mit ölig schwarzen Blättern auswuchsen.
Aus der Decke wurde eine Lanze aus rotem Licht gelassen, die auf die Schildkröte einhieb. Mit einem lauten Krachen zerbarst ihr Panzer. Sie schrie, und aus ihrem zertrümmerten Panzer troff blaues Öl. Eine zweite Schildkröte kam zum Vorschein, dann eine dritte.
Mit dem wuchernden schwarzen Wein im Schlepptau näherten sich die Tiere. Mehr und mehr Schildkröten krochen aus der Dunkelheit hervor. Eine weitere rotglühende Lanze tauchte auf, zerschmetterte einen sechseckigen Panzer. Zwei Lichtblitze zuckten auf, dann folgten noch viele weitere.
Nach wie vor lag der Leib unter dem Gewand verborgen auf dem Steintisch. Dann peitschte ein Windstoß durch die Höhle und blies der Gestalt die weiße Kapuze vom Kopf.
Und zum Vorschein kam Nicodemus’ eigenes Gesicht. Einen schwindelerregenden Moment lang war Nicodemus nicht nur er selbst, sondern auch die Gestalt auf dem Tisch, gleichzeitig die sich schwerfällig über den Boden bewegende Schildkröten und ein zu Tode erschrockender Neophyte, der durch den Wald zurück nach Starhaven rannte.
Als Gestalt auf dem Tisch setzte er sich auf. Seine Wangen blähten sich, während sich seine Lippen öffneten und ein ohrenbetäubendesmetallisches Klingeln entwich. Eine winzige Kugel schwirrte in seinem Mund umher.
In diesem Moment erwachte Nicodemus in Shannons Federbett. Er war dem Albtraum entronnen und starrte nun auf das vibrierende Stundenglas, dessen Lärm ihm beinahe das Trommelfell zerriss.
Kapitel 16
Bei seiner Rückkehr traf Shannon auf Amadi, die gemeinsam mit drei ihrer Wächter sein Studierzimmer durchwühlte. In dem ersten der drei
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