Nicodemus

ausgetobt?«
    Er rollte die blinden Augen. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass sich gestern Nacht eines meiner Zauberbücher aufgelöst hat. Ich kann dir die Überreste dieses Buches, eigentlich waren es mehrere, gerne zeigen.«
    »Natürlich kannst du das. Und die Männer, die ich ausgesandt habe, um Eure Geschichte mit den Wasserspeiern zu überprüfen. Zweifellos werden die Geschöpfe Euch entlasten. Ihr seid Linguist und habt Euch auf die Intelligenz von Texten spezialisiert. Bestimmt habt ihr die Wasserspeier …«
    »Magistra, das geht jetzt zu weit! Ich habe alle deine Fragen beantwortet, meine Forschung unterbrochen und dir sogar Zugang zu meinen Schülern gewährt. Und wie lohnst du mir meine Gutwilligkeit? Indem du mir hinterherspionierst, meine Bibliothek durchwühlst und mir vorwirfst, ich hätte mich an den Geschöpfen der Akademie zu schaffen gemacht.«
    Amadi schürzte die Lippen.
    »Du schuldest mir eine Erklärung«, sagte er mit ruhigerer Stimme. Er hielt Azure eine weitere Nuss hin. »Ansonsten muss ich mich beschwer…«
    »Zwei Eurer Schüler sind tot.«
    Die Walnuss fiel ihm aus der Hand. »Was sagst du da?«
    »Zwei Eurer Schüler sind tot. Adan of Roundtower und Eric Everson. Adan hat man auf dem Dach der Schmiede gefunden. Offenbar hat er sich von der Weshurst-Brücke gestürzt. Sein älterer Bruder ist in den Flammen von Astrophell umgekommen. Der andere Junge, Eric, kam aus dem Wald gerannt, getroffen von einem verschriebenen Zauber, der ihm die Eingeweide zerrissen hat. Bis zum bitteren Ende hat er mit dem Fluch gerungen. In dem Gewand des Jungen haben wir eine Numinusschriftrolle gefunden – anscheinend hat er sie gestohlen und im Wald damit gespielt.«
    »Beim Blut des Los«, flüsterte Shannon und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Die Papageiendame kletterte auf seine Schulter und widmete sich der Pflege seiner Filzlocken.
    Amadi nahm auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. »Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Jungen umgebracht wurden. Doch angesichts des Mordes an Nora Finn, glaube ich, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Also muss ich Euch fragen: Magister, wo seid Ihr in den vergangenen vier Stunden gewesen?«
    »Ich habe mich mit den Wasserspeiern unterhalten, das ist die Wahrheit«, sagte Shannon benommen.
    Der Mörder hatte schneller zugeschlagen, als er es für möglich gehalten hätte. Noch schlimmer war, dass er doch alle Zauberer, die Kakographen betreuten, angewiesen hatte, ihre Mündel keinesfalls aus Starhaven herauszulassen. Wie hatte der Mörder die Jungen nur dazu gebracht, sich dem zu widersetzen?
    Der Mörder hatte behauptet, er könne Träume auswerfen, so wie andere Netze. Das Scheusal musste die Jungen also in ihren Träumen gezwungen haben, die schützenden Mauern von Starhaven zu verlassen. »Vergib mir, Schöpfer!«, flüsterte er unhörbar. Alles hatte sich nun geändert.
    Amadi schickte sich an, ihn über die Jungen auszufragen.
    Doch er unterbrach sie und zog den abgeschlagenen Tonarm unter seinem Gewand hervor. Allmählich hatte das Ding schon seine Form verloren, dennoch legte er es vor sich auf den Schreibtisch.
    Während Amadi auf den Arm starrte, beschrieb er Nora Finns private Bibliothek und seinen Kampf mit dem Mörder.
    Amadi sah ihn dabei mit unbeweglicher Miene an. »Magister, erwartet Ihr wirklich, dass ich Euch das glaube?«
    Sein Ton wurde eindringlicher. »Geh hinüber zum Gimhurst-Turm und sieh dir Noras Bibliothek selbst an.«
    »Eurem Bericht zufolge haben die dekonstruierenden Zauberbücher die Privatbibliothek doch in Schutt und Asche gelegt – selbst die Waffen Eures Angreifers. Und Ihr sagtet auch, dass das Wesen mit Finns Forschungstagebuch verschwunden sei. Also gäbe es dort nichts zu sehen.«
    Daran hatte Shannon nicht gedacht. »Aber der Arm.«
    Amadi betrachtete den Arm und atmete tief durch. »Ich habe noch nie von einem Lebewesen oder Geschöpf gehört, das sich von Fleisch in Ton verwandelt. Vielleicht war eine solche Verwandlung in der Alten Welt möglich. Vielleicht gelingt so etwas einer Gottheit mit einem Gotteszauber.«
    Shannon spürte, wie ihm das Blut aus den Händen wich. Gotteszauber waren mächtige, blumige von Gottheiten verfasste Texte.
    »Magister, glaubt Ihr, Ihr hattet es gestern Nacht mit einem Gott zu tun? Gewiss hätten doch auch noch andere Zauberer die Gegenwart einer Gottheit spüren müssen.«
    Sie hatte recht. »Möglicherweise keine Gottheit, aber ein Gotteszauber«, sagte er