Nicodemus
darüber nachdachte, desto mehr kam es ihm so vor, als hingen diese beiden Träume, der mit dem Neophyten und der mit der Schildkröte, nicht zusammen. Das beruhigte ihn. In normalen Träumen wimmelte es nur so von unsinnigen Wendungen. Vielleicht bedeutete diese bizarre Abfolge, dass der Traum letztendlich nichts weiter war als ein Traum.
In jedem Fall wüsste Shannon, was zu tun sei, und so beschloss Nicodemus, sich im Moment nicht weiter darum zu kümmern.
Aber was war mit den Wächtern? Hielten sie ihn wirklich einesMordes für fähig? Dabei kam ihm James Berr wieder in den Sinn, der mordende Kakograph von einst. Glaubten die Wächter etwa, er sei ein zweiter James Berr?
Und was hatte die Druidin zu ihm gesagt? Ihre Worte hatten eine stille Sehnsucht in ihm geweckt. Konnte er tatsächlich der Halkyon sein? All die Jahre hatte er versucht, sich mit seiner Kakographie abzufinden, konnte er sie nun wirklich überwinden?
Einerseits wollte er sich nur allzu gerne Träumereien hingeben, wie sein Leben aussehen könnte, wenn die Druidin recht hätte. Andererseits war er auch argwöhnisch und mehr als ängstlich. Was, wenn er noch einmal wagte, an die Möglichkeit zu glauben, dass er kein Kakograph war, um einmal mehr festzustellen, dass alles nur eine Illusion war? Könnte er eine zweite Enttäuschung verkraften?
Er tastete in seiner Geldkatze nach dem magischen Artefakt, das Deidre ihm gegeben hatte. Findesamen, so hatte sie es genannt. Selbst durch den dünnen Stoff spürte er ein Kribbeln in den Fingern.
Die magische Kraft des Findesamens zeugte von Deidres Aufrichtigkeit. Dennoch hatte sie es eindeutig auf mehr abgesehen, als seine Kakographie zu kurieren. Und je länger Nicodemus über ihre Motive nachdachte, desto mehr misstraute er ihnen.
»Flammendes Blut«, schimpfte er und zerdrückte ein weiteres Stückchen Eintopf.
Und was war mit dem Rat, den er dem schlagfertigen Kakographen nach dem Unterricht gegeben hatte? »Finde dich mit deiner Kakographie ab, und du wirst frei sein«, das hatte er im Wesentlichen gesagt. In dem Moment hatte er es auch so gemeint, aber nun hoffte er inbrünstig, dass er von seiner eigenen Schreibschwäche geheilt werden könnte.
Machte ihn das zum Heuchler? Er hob den Löffel an die Lippen und tippte damit gegen seine Schneidezähne. »Ja«, grunzte er, »zum Henker, das tut es.«
Auf einmal wünschte sich Nicodemus, alles möge doch vorbeigehen. Wenn er nur in seine Kammer zurückkriechen und den Rest des Tages damit verbringen könnte, in seinem Ritterroman zu lesen.
Unvermittelt ließ Devin ihre Schüssel auf den Tisch knallen undsetzte sich neben ihn. »Schon gehört?«, fragte sie. »Siehst du deshalb so aus, als sei dir Erasmus’ Geist begegnet?«
Mit einem lauten Klappern fiel ihm der Holzlöffel aus der Hand. »Dev, ein Glück, dass du hier bist! Ich muss dir unbedingt …« die Worte erstarben ihm auf den Lippen, als er an sein Versprechen Shannon gegenüber dachte, niemandem zu trauen. »Ich muss dir unbedingt von meiner ersten Unterrichtsstunde in Kompositionslehre erzählen. Es lief gut. Aber die Nachrichten waren so erschreckend – ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Das geht uns allen so«, grummelte sie und versenkte ihren Holzlöffel im Eintopf. »Nico, glaubst du, dass Starhaven uns beschützt?«
»Natürlich. In Astrophell hätte man uns schon längst für immer der Magie beraubt.«
»Aber vielleicht wäre das gar nicht mal so schlimm. Meinst du, das einfache Volk schert sich um ein Feuer in Trillinon? Was gehen die Nachrichten aus der Ferne einen Schweinehirten an?«
»Aber Dev, du könntest nicht mehr lesen und schreiben.«
Gleichmütig zuckte sie die Achseln. »Ich les sowieso nur Hausmeistertexte. Manchmal kommt es mir so vor, als seien wir nichts als Ameisen auf einem Ameisenhügel, noch dazu verkrüppelte Ameisen. Und da drüben kommt übrigens gerade der Ameisenkönig.« Sie deutete auf ein Podium auf der anderen Saalseite. Eine Gruppe von Dekanen und fremden Zauberern stand um eine lange Tafel.
Der Provost schwebte auf einem hohen, hölzernen Lehnstuhl herein. Selbst aus der Entfernung konnte Nicodemus den Muriszauber ausmachen, der unter dem Sitz des Erzzauberers schwebte. Wäre er näher dran gewesen, hätte er einen abartig alten Mann gesehen, den die Jahre gebeugt hatten. Auch einen ergrauten Waschbären hätte er gesehen, den sich der Provost als Schutzgeist hielt.
»Siehe«, intonierte Devin. »Provost Ferran Montserrat:
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