Nicodemus
der einzige unabhängige Geist in diesem Steinbruch. Dieser Mann muss niemandem Rechenschaft ablegen, nur unserem Gott und seinem eigenen Avatar. Wir anderen müssen uns seinem Willen beugen, wie die Ameisen.«
Nicodemus schaute zu, wie der Provost zum Kopfende der Tafelschwebte. Erstaunlich behende landete der uralte Erzzauberer seinen Stuhl und griff nach einer Gabel. Die Dekane und ihre Gäste nahmen ebenfalls Platz und fingen an zu essen.
»Warum muss alles immer so kompliziert sein?«, murrte Nicodemus und fluchte leise, »Blut des Los.«
»Blut und Pisse in der Silberschale!«, zischte Devin. »Ich hab’s vergesssen.«
Nicodemus schreckte leicht auf. »Was hast du vergessen?«
Eine Röte flog über Devins bleiche Wangen, während sie sichtlich damit rang, eine Salve von Beschimpfungen zurückzuhalten. »Vor zwei Tagen hat mich Magistra Highsmith erwischt, wie ich bei der Arbeit eingenickt bin. Nun will die alte Schrulle von Historikerin, dass ich den anderen Mädchen in Hausmeisterkunde einen kurzen Vortrag über Los halte. Das versteht sie unter Strafe. Der alte Besen weiß genau, dass Kakographen keinen Religionsunterricht bekommen. Eigentlich hätte ich es nachschlagen sollen, habe ich aber vergessen.«
Vielsagend zog Nicodemus die Brauen hoch. »Wann sollst du ihn halten?«
»In einer halben Stunde«, sagte Devin und gab ihm mit ihrem Blick zu verstehen, er solle ja nicht wagen, sie zu schelten. Zum Glück war er schlau genug, den Mund zu halten. Und mit ruhigerer Stimme fuhr sie fort: »Nico, sag mir alles, was du über Los weißt.«
»Ich bin ja auch bloß ein Kakograph und habe nie Religionsunterricht bekommen.«
»Aber du merkst dir doch jedes Wort, das Shannon sagt, und bekommst glänzende Augen dabei.«
»Schon gut, schon gut. Damals in der Alten Welt herrschten goldene Zeiten während des Solaren Reichs, nicht zu verwechseln mit dem Neosolaren Reich, das unsere Welt begründet hat. Jedenfalls lebten die Menschen des Solaren Reichs in Eintracht mit den Göttern. Aber jemand beging eine schwere Sünde, durch die Los, bis dahin ein mächtiger Erdgott, zum ersten Dämon wurde.«
»Aber was für eine Sün…?«
Nicodemus zuckte mit den Achseln. »Jede Religion gibt darauf eineandere Antwort. So ganz stimmt wohl keine; das Wissen muss verloren gegangen sein, als unsere Vorfahren den Ozean überquerten. Als Zauberer haben wir keinen festen Glauben und sind somit weder an eine Religion noch an ein Königreich gebunden. Alles, was du wissen musst, ist, dass Los ein Drittel der Götter mit zum Calax genommen und sie dort in Dämonen verwandelt hat. Aus all diesen Dämonen hat er eine Armee geschaffen und sie Pandämonium genannt. Daher stammt auch das Wort: ›pan‹ – alle; ›dämonium‹ – Dämonen. Wenn wir also sagen, die Stunde war ein Pandämonium, verwenden wir eine Hyperbel –«
»Heilige Scheiße«, Devin schnitt sich selbst das Wort ab und beruhigte sich wieder. »Nico, ich kapier’s. Kannst du mir nicht einfach nur die Geschichte erzählen, ohne dieses ganze linguistische Gefasel?«
Bevor er weitersprach, grollte Nicodemus noch, dass das historische und linguistische Gefasel doch schließlich eins seien. »Also, nachdem Los das Pandämonium geschaffen hatte, brach zwischen den Göttern und den Dämonen ein Krieg aus, die Apokalypse. Als sich abzeichnete, dass die Dämonen siegen würden, haben die Götter der Menschen riesige Exodus-Schiffe gebaut, um damit den Ozean zu überqueren. Irgendwie – Genaueres ist nicht bekannt – ist es einer Gruppe menschlicher Helden gelungen, Los zu versteinern. Das hat den Schiffen ausreichend Zeit verschafft, aufs Meer hinaus zu gelangen. Die Dämonen waren an die Alte Welt und den alten Kontinent gebunden und konnten darum nicht folgen. Dann zog auf einmal ein mächtiger Sturm auf, dieser Malstrom hat die Exodus-Schiffe in alle Himmelsrichtungen verstreut. Deshalb gibt es in den heutigen Königreichen auch Menschen von unterschiedlichster Hautfarbe und Herkunft.«
Deidre kniff die Augen zusammen. »In früheren Königreichen sahen alle genau gleich aus?«
»Mehr oder minder. Bestimmt wäre jemand mit meinem schwarzen Haar und dem olivbraunem Teint aus einem anderen Königreich gekommen als du mit deinem roten Haar und den Sommersprossen.«
»Nun werd mal nicht pampig, Nico. Kakographen lernen so ein Zeug nicht. Und ich häng auch nicht an Magisters Lippen so wie du. Wenn die Zauberer tratschen, dann spitz ich die Ohren. Aber ich kaue
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