Nicodemus
»Shannon, ich dachte, du hättest deinem Lehrling von unserem Exputationszauber erzählt.«
Von Nicodemus angeführt traten die beiden Zaubermeister auf den Gang hinaus. Die Wächter folgten ihnen auf dem Fuße.
Verärgert schnalzte Shannon mit der Zunge. »Timothy, es war ein sehr ungewöhnlicher Tag heute. Ich bin noch nicht dazu gekommen.«
»Du brauchst dich doch nicht zu rechtfertigen, Agwu«, sagte Smallwood. »Ich habe doch bloß gefragt.«
Sie erreichten das Treppenhaus und begannen die schmalen Stufen hinaufzusteigen.
»Nun, Nicodemus und Ihr, Besucher aus dem Norden, lasst es mich erklären«, sagte Smallwood mit der für ihn charakteristischen Begeisterung. »Vor Jahren schon haben Magister Shannon und ich einen Exputationszauber erdacht, der Texte rund um den Index sichtbar macht, aber wir haben nie die Erlaubnis erhalten, unserer Forschung voranzutreiben, bis gestern, als–«
»Timothy«, unterbrach ihn Shannon. »Nicodemus hat überhaupt keine Ahnung von diesem Artefakt, und bitte sprich nur in geschützter Umgebung davon.«
»Ganz recht, ganz recht«, sagte Smallwood. »Vergib mir meine Gedankenlosigkeit. Nicodemus, würdest du bitte einen Murmelzauber schreiben, damit wir uns ungestört unterhalten können?«
Es war üblich, dass die Lehrlinge die alltäglichen Zauber für ihre Meister übernahmen. Shannon enthob Nicodemus zumeist von dieser Aufgabe. Bezeichnenderweise war Smallwood das mal wieder entfallen.
Nicodemus atmete tief ein und begann die erforderlichen Runen inseinem rechten Unterarm zu bilden. Obwohl er in einer einfachen Sprache geschrieben wurde, erforderte der Murmelzauber eine komplexe Satzstruktur und einen kunstvollen Nachsatz.
Nicodemus war mit dem Ergebnis unzufrieden, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Zauber mit einer weiteren schnellen Bewegung seines Zeigefingers zu wirken.
Anstatt sich zu einer schalldämpfenden Wolke auszuweiten, fiel der strahlend weiße Fehlzauber zu Boden und zerbrach. Die Satzfragmente tanzten auf dem Steinboden wie Wassertropfen in einer heißen Pfanne. Vor Scham errötete Nicodemus. »Es tut mir leid, aber ich …«
»Ich glaube, bei einer solch delikaten Angelegenheit ist ein Magnustext vonnöten, vielleicht ein Zauber«, sagte Shannon. Dankbar drehte sich Nicodemus zu ihm um.
Shannon schrieb, während die Runde ihren Abstieg fortsetzte. Die Wächter sprachen leise untereinander. Laut schmatzend stieß Shannon den Subrosazauber aus. Im Nu war die Gruppe von einer schalldichten Glocke aus übereinanderlappenden Blütenblättern umhüllt.
Smallwood räusperte sich. »Also, Nicodemus, Magister, wie ich bereits sagte, haben wir hier in Starhaven viele Kodizes, aber nur einen Index. Auf den ersten Blick scheint der Index ein ganz gewöhnliches weltliches Buch zu sein. Doch die Zauber, die zwischen den Buchdeckeln hin- und herjagen, sind außergewöhnlich; sie verbinden den Index mit jeder Schriftrolle, jedem Buch und jedem Wälzer, der sich innerhalb der Mauern Starhavens befindet.«
Smallwood blieb stehen, um die Schriftrollen in seinem Arm umzulagern. »Um den Index nach weltlichen Texten zu durchsuchen, braucht man nur an ein bestimmtes Thema zu denken und dann das Buch zu öffnen. Man schlägt es auf, um über Synästhesie, Vorteile der Magie oder sonst irgendein Thema zu lesen, und schon versorgen einen die Zauber mit allen verfügbaren Informationen.«
Genau in diesem Augenblick betrat die Gesellschaft das Atrium der Frauen, dessen Deckenmosaike berühmte Zauberinnen darstellten. Nicodemus’ Blick fiel auf die hundeähnlichen Schutzzauber, die den gewölbten Eingang zur Hauptbibliothek flankierten.
Acht Fuß hoch ragten die Numinuskörper der Geschöpfe, sie hatten lange Reißzähne, muskelbepackte Schultern und glühende Augen. Im Gegensatz zu den glatten Körpern waren die furchteinflößenden Köpfe der Kreaturen mit dichtem, gelocktem Fell besetzt. Unter der dem Durchgang zugewandten Pranke führte jedes Geschöpf eine gigantische Magnuskugel.
Als sich die Gruppe näherte, bleckten sie ihre Zähne, doch Shannon formte in aller Gelassenheit die nötigen Passworte.
Smallwood ließ sich in seinem Vortrag nicht beirren. »Sucht man dagegen einen magischen Text, so legt man einfach seine Hand auf eine der erleuchteten Seiten, und im Geist wird man mit den Zaubern im Buch verbunden. Schon beim bloßen Gedanken an das Gesuchte erstellt der Index eine Liste der entsprechenden Zauber. Hat man sich für einen entschieden
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