Nicodemus
Wahrheit hatte ich kaum mehr als das Nötige getan. Doch ich sah, wie gerührt dieses Kind war und wie bitter es Freundlichkeit nötig hatte. In ihm erkannte ich eine zweite Chance. Er hieß Allen, ein lornischer Junge. Jetzt lebt er in Astrophell, und die Nordländer hegen nicht den geringsten Verdacht, dass er, mittlerweile ein Bibliothekar mit Zaubergrad, ein Kakograph ist.«
Shannon hielt innne. »Du glaubst also, ich hätte dich aus Mitleid zu meinem Lehrling gemacht? Dass ich mir einen Kakographen halte, damit ich mich vor ihm aufspielen kann? Um mich so groß zu fühlen wie damals vor dem Hohen Rat? Wenn du das ernstlich glaubst, Nicodemus Weal, dann bist du ein Narr.«
Nicodemus schwieg eine ganze Weile. »Aber warum wolltet Ihr mich als Lehrling?«
Shannon deutete auf seine milchig trüben Augen. »Ich habe dich ausgesucht, weil ich die Kakographen verstehe und sie mich. Ich habe dich gewählt, weil ich dachte, ich könnte dir am besten helfen. Außerdem hast du als Lehrling deine Qualitäten. Wenn du Wortteppiche knüpfst, brauche ich für einen Zauber nur ein Viertel der Zeit.« Der alte Zauberer sagte leise: »Haben wir das Thema jetzt zur Genüge behandelt?«
Als Nicodemus keine Antwort gab, machte sich der alte Mann Richtung Bergwand auf. »Dann komm. Die Wächter werden uns bald einholen.«
Den größten Teil des Weges legten sie schweigend zurück. Ihre Schritte hallten beinahe unnatürlich laut. Nicodemus holte tief Atem, bevor er die Stille durchbrach. »Es tut mir leid, Magister. Es ist nur … nun, wo die Chance besteht, die Kakographie loszuwerden.«
»Ich verstehe schon«, versetzte Shannon. »Jetzt lass uns aber weitergehen. Weißt du, warum wir ausgerechnet über die Spindle-Brücke gehen?«
»Weil Magistra Finn hier ermordet wurde?« Nicodemus starrte auf die geschwungenen Umrisse der riesigen Efeublätter.«
»Ganz richtig. Ich frage mich, ob es einen Grund dafür gibt, dass sie ausgerechnet von dieser Brücke gestürzt ist. Ich wollte die Felswand mit meinen blinden Augen sehen. Ich dachte, vielleicht könnte ich durch das Gestein hindurch einen versteckten Zauber oder sonst irgendeinen Hinweis entdecken.« Er seufzte. »Mein Blick durchdringt zwar den Stein, aber dahinter kann ich nichts ausmachen.«
Er schrieb ein paar Sätze und schleuderte sie gegen die Felswand. »Anscheinend haben wir nichts als Felsen vor uns.«
Nicodemus trat einen Schritt zurück und nahm das sechseckige Muster hinter der Brücke in Augenschein. »Magister, Ihr sagtet, die Primusrunen seien sechseckig. Gleichen sie in irgendeiner Weise den chthonischen Mustern?« Er zeigte darauf.
Shannon schüttelte den Kopf. »Seit ich nach Starhaven gekommenbin, habe ich diese Reliefe bestimmt schon Hunderte von Malen untersucht. Ich kann keine Ähnlichkeit entdecken.«
Nicodemus warf seinem Lehrer einen verstohlenen Blick zu. Ob er ihm wohl noch immer böse war? »Magister, glaubt Ihr an die Geschichten über die Chthonen, die angeblich über diese Brücke vor den neosolaren Armeen geflohen sind? Glaubt Ihr, dass sie ins Himmelbaumtal entkommen sind?«
»Nein, die Historiker lagen ganz richtig. Unsere Vorfahren haben bis auf den letzten Chthonen alle niedergemetzelt.« Er wandte sich wieder Starhaven zu. »Lass uns umkehren. Hier gibt es nichts zu sehen.«
Nicodemus zögerte einen Augenblick, bevor er dem alten Zauberer folgte. »Was machen wir denn jetzt?«
»Informieren uns über unseren Feind«, antwortete Shannon. »Wir wissen, dass der Mörder aus Fleisch und Blut ist. Erst wenn man ihn schneidet, wird er zu Ton. Wir müssen einen weltlichen Text finden, der sich mit solchen Wesen beschäftigt. Normalerweise würde die Recherche eines solch unbekannten Themas den ganzen Herbst in Anspruch nehmen. Doch du und ich, wir können unser Forschungsprojekt mit Magister Smallwood heute Nachmittag leicht abändern.«
Wieder wanderte Nicodemus’ Blick zurück zu den Reliefen. »Wie meint Ihr das?«
»Wir studieren ein sehr mächtiges Artefakt, den Index. Es ermöglicht einem, eine Vielzahl von Texten innerhalb kürzester Zeit zu durchsuchen. Nicht zu vergleichen mit dem Index in Astrophell, aber dennoch beeindruckend. Deine Aufgabe wird es sein, Smallwood und die Wächter gegen Ende des Projekts abzulenken, so dass ich heimlich einen Blick in den Index werfen kann.«
»Aber warum sagen wir nicht ganz offen, was wir vorhaben?«
Shannon schüttelte den Kopf. »Weil weder Smallwood noch die Wächter es zulassen
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