Nie mehr Nacht (German Edition)
alten Teppiche, die Bibliothek mit dem Billardtisch, allem voran aber die Stille und der weite Blick übers Meer verschlugen ihm die Sprache. Ich führte ihn nach oben zu den Möwenzimmern und erzählte von Carlo. Ich zeigte ihm, wo Jesse und Niels gewohnt hatten, erzählte von Juhls, von Margo und von Cat. Immer wieder blieb er in einem der Korridore oder im Treppenhaus stehen und betrachtete die Flut der Bilder, Zeichnungen, Gemälde, Postkarten und Fotografien an den Wänden. So wie ich drei Monate zuvor versuchte er, eine Ordnung, ein Muster, irgendeine Struktur in der zusammengewürfelten Galerie auszumachen, gab es aber bald auf und war nur noch am Staunen. Im zweiten Stock zeigte ich ihm mein Lieblingsbild und erzählte, dass es in meinem ersten Zimmer gehangen hatte.
»He, Sisley!«, rief er. »Eins aus der Serie über die Überschwemmung der Seine bei … hab den Namen vergessen.«
»Port-Marly.«
Und Kevin sagte, es sei ein wundervolles Bild, eines seiner liebsten von Sisley. Das helle Gelb, und dieser rosige Hauch, der über allem liege, dem Wasser, den Bäumen, ein Bild von der Unfassbarkeit des Lichts, das fände ich doch sicher auch.
Dass ich mich immer fragen würde, wie es wohl unter dem Wasser aussehe, sagte ich. Standen da Tische auf dem Platz vor dem Haus des Weinhändlers? War der Platz geschottert, umgeben von Hecken, einer Hecke mit einer Pforte?
»Sieht deinem Hotel ziemlich ähnlich, das Haus dieses A. S. Nicolas, ist dir das schon aufgefallen?«
Nein, das war mir noch nicht aufgefallen. Aber Kevin hatte recht: Das vom Hochwasser umschlossene Weinhändlerhaus hatte Ähnlichkeit mit dem L’Angleterre . Und die beiden Männer, die in dem Kahn standen und langsam an der Hausfront entlangglitten, unterhielten sich. Sie unterhalten sich, dachte ich, genauso wie du dich mit diesem Fremden unterhältst, der einmal dein Freund war und dir heute das Leben gerettet hat.
13
I m Zimmer nebenan schlief Kevin noch, als ich mich anzog und dann in der Bibliothek die Trümmer der vergangenen Nacht wegräumte. Nach einem Spaziergang durch die Dämmerung zum Strand und zum Vogelschutzgebiet hatten wir uns Essen kommen lassen. Die Teller auf den Knien, hatten wir gegessen und die erste Flasche Weißwein geleert, und Kevin hatte erzählt, dass er im Anschluss an die D-Day-Ausgabe in St:art einen Schwerpunkt zu den peruanischen Nazca-Linien plane. Wir spielten Billard und tranken. War eine Flasche leer, ging ich und holte aus dem Keller eine neue. Kevin spielte unkonzentriert, lachte über sich selbst und meinen Ernst, und es schien ihm nichts auszumachen, wenn ich die schwarze Kugel ins Loch senkte, während seine noch fast alle auf dem Filz lagen. Wir leerten eine Flasche nach der anderen, und er konnte nicht aufhören, von den Scharrbildern der Indios im roten Sand der Küstengebirge von Peru zu erzählen. Voller Begeisterung schilderte er Bilder von Tieren und Pflanzen, Bilder, die in acht Jahrhunderten immer abstrakter und größer wurden, bis sie zu Mustern und schließlich kilometerlangen, über die erodierten und verwüsteten Hügelhänge sich erstreckenden Linien angewachsen waren.
Ich meinte, sie vor mir zu sehen, die Scharrbilder von Nazca. Hatte ich nicht sogar von ihnen geträumt? Auf dem Billardtisch lag noch das hellbraune Lederfutteral, in dem Kevins iPad steckte. Ich klappte es auf, berührte den Bildschirm, schon setzte sich vor meinen Augen wieder das Bild zusammen, das er mir in der Nacht zuletzt gezeigt hatte, ein riesiger von zahllosen Linien im rötlich schimmernden Sand durchkreuzter Kolibri.
»Und du hast wirklich aufgehört? Komm schon, Markus, erzähl mir, dass das nicht wahr ist«, sagte er mit ziemlichem Lallen. »Jetzt mal im Ernst: Zeichnest du noch, oder ist damit Schluss?«
»Ich wollte aufhören, aber irgendwie ging es nicht«, antwortete ich und hörte, wie sehr ich selber lallte.
»Ha!« Kevin nahm einen sehr großen Schluck. Mittlerweile hatte jeder von uns seine eigene Flasche.
»Nichts ha!« Ich hob meine an den Mund. Der Wein war kalt und tat gut, er schmeckte nach Wind, Meer und dem L’Angleterre . »Ich zeichne nicht mehr so, wie du meinst, dass ich zeichnen müsste, um mich von dir nach Peru zu irgendwelchen in den verbrannten Sand gescharrten Kolibris schicken zu lassen« – ein schwieriger Satz, aber ich bekam ihn hin, und darauf trank ich.
Kevin wollte wissen, wie viele Brücken ich gezeichnet hatte, und ich sagte es ihm: »So viele, wie du Augen
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