Nie mehr Nacht (German Edition)
hast.«
»Und wo, Leonardo, sind die zwei Zeichnungen? Hast du die Blätter noch?«
»Vergessen«, versuchte ich zu sagen.
Und Kevin: »Gegessen? Er hat sie gegessen!«
Wir tranken, lachten, tranken, bis die Flaschen leer waren, und darüber lachten wir so lange, bis ich aufstand und davonwankte, um aus dem Wunderweinkeller zwei neue zu holen.
In der Tür stehend schrie ich: »Es gibt keine Blätter! Nicht mal Skizzen gibt’s! Ich hab die Pegasusbrücke gezeichnet und die Brücke am Gui, ja! Aber ausstellen oder vervielfältigen oder was auch immer kann die Zeichnungen niemand, auch du nicht, Brennicke, du peruanische Ratte!«
Und Kevin hatte noch gelacht. »Klar! Auch ich nicht! Keiner! Wozu denn? Er hat sie gegessen.«
Damit war er in seinem Sessel zusammengesackt und liegen geblieben, die Beine seltsam verdreht. An die hin und her schwankende Billardzimmertür geklammert, hatte ich ihn gefragt, ob er nicht noch eine halbe Flasche mittrank. Alles wegspülen, die Zeit, die Schmerzen, den Kummer, die Nacht.
»Komm schon, Alter! Lass uns nicht von morgen quasseln. Erzähl mir, wann du das letzte Mal von Gordy gehört hast!«
Aber da war Kevin längst eingeschlummert.
Als ich die leeren Flaschen und den Müll aus der Bibliothek hinunter in die Küche trug, kam Kevins Schatten aus seinem Zimmer und schlich über den Korridor ins Bad. Ich fragte ihn, wie er es ins Bett geschafft hatte, und er antwortete, er könne sich nur erinnern, dass er gekrabbelt war, endlos weit auf allen vieren gekrabbelt, bis er mein hell erleuchtetes Zimmer gesehen hatte.
Wir verabredeten, in Bayeux zu frühstücken, das heiterte ihn etwas auf. Er verschwand unter die Dusche, und ich schnappte mir den Müll und sah erst, als ich ins Freie trat, dass es die ganze Nacht hindurch geschneit haben musste.
Die Luft war kalt und klar, und nur ein schwacher, ein ablandiger Wind blies. Unter meinen Schuhen knirschte der Schnee, als ich die Müllsäcke in die Tonne warf und die Tonne nach draußen vors Tor zog. Jetzt ist es Winter, dachte ich und sah im Kasten nach, ob Post gekommen war. Ein einzelner Brief lag darin, ein gelber, von Hand beschrifteter Umschlag mit meinem Namen darauf. Es war ein Brief von Lilith – »Lilia Muller« hatte sie auf die Kuvertrückseite geschrieben, und darunter ihre Adresse in Cherbourg-Octeville.
Ich nahm den Brief, steckte ihn in die Anorakinnentasche und ging, ohne es zu merken, über den verschneiten Kiesweg in Richtung Dorf weiter. Wo der Heckenweg begann und die Straße nach Bayeux abzweigte, kam mir eine dick eingemummelte Frau entgegen, und kurz darauf bemerkte ich im Schnee auch den großen weißen Hund, dem der halbe Schwanz fehlte. Es war die Frau, die Jesse und ich am Abend gesehen hatten, als wir im L’Angleterre angekommen waren, der erste Mensch aus dem Ort. Wir nickten uns zu, und sie ging weiter. Aber ich blieb stehen. Ich blinzelte in das blendende Licht, atmete tief ein, spürte die Luft in den Lungen und dachte an Ira: Zufall, Sprache der Welt!
Dann riss ich den Umschlag auf. Ein doppelseitig beschriebener Bogen Papier steckte darin, aber auch eine Postkarte, die gleiche, diesmal unbeschriebene Karte, die das alte Fährschiff zeigte. Langsam ging ich zum Hotel zurück und las.
»Lieber Markus, Sie finden mich hoffentlich nicht aufdringlich, wenn ich Ihnen noch einmal schreibe. Ich könnte es mir selbst nicht verzeihen, ließe ich Sie einfach ziehen, ohne wenigstens versucht zu haben, Sie von meinem Vorschlag zu überzeugen. Lassen Sie ihn sich doch bitte durch den Kopf gehen, bevor Sie mein Angebot ablehnen. Es kommt von Herzen – und ich hätte gern Gelegenheit, Ihnen zu erzählen, warum.
Von Annik Sorel weiß ich um Ihre Lage. Sie schämt sich, mir so vieles von dem weitererzählt zu haben, was Sie ihr anvertrauten. Seien Sie bitte nicht wütend auf sie. Etwas, das ich selber nicht erklären kann, ließ nicht locker, bis ich alles – nein, das stimmt nicht –, bis ich vieles von Ihnen wusste.
Vielleicht die Elsässerin in mir! Ich bin in den Vogesen aufgewachsen, im Ban de la Roche – dem Steintal –, wo es nur Bäume und Schafe gibt und die Leute seit Jahrhunderten arm sind und weg wollen. 1988 machte ich Ferien am Ärmelkanal, lernte jemanden kennen, blieb hier. Ich fand Arbeit bei dem Fährbüro in Cherbourg, fing an, mit Schiffen nach England zu fahren. Kennen Sie sich, Sie sind ja Hamburger, mit Fähren aus? Wie so vieles werden sie immer größer und schneller.
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