Nie mehr Nacht (German Edition)
und mal ich und während Kevin Brennickes Schnarchen das Abteil erfüllte.
Mehr war eigentlich nicht passiert. Vergeblich suchte ich in Jesses Miene nach Spuren von Enttäuschung oder Spott. Er warf mir einen seiner maliziösen Seitenblicke zu, nahm es ansonsten aber voller Gleichmut hin, dass mein Abenteuer wohl keinen echten Höhepunkt hatte.
»Nur einmal hat sie auch mich gestreichelt«, sagte ich, um die Geschichte zu Ende zu bringen. »Draußen wurde es schon hell, als sie mir die Hand auf den Kopf legte und sagte, sie müsse aufstehen. Sie wollte sich frisch machen, bevor sie ausstieg. ›Now this is your place and you can sleep‹, sagte sie.«
»Wie jetzt? Die wollte gar nicht nach Paris?«, fragte Jesse.
»Nein. Sie war Belgierin. Und sie wollte nach Mons.«
»Und deswegen willst du auch dahin, alles klar.«
»Als der Zug in Mons hielt und sie ihre Sachen aus dem Abteil holte, wachten alle auf. Es roch nach Schlaf und alten Socken, das weiß ich noch. Ich stand in der Gegend rum und wusste nicht, wohin mit mir. Ich war todmüde, todtraurig.«
»Und sie ist einfach ausgestiegen«, sagte Jesse vorwurfsvoll, bestätigt in seiner jahrzehntealten Erfahrung, dass von einer Frau nichts anderes zu erwarten war.
»Belgien!«, schnaubte er verächtlich.
»Ich glaube, ein bisschen war sie auch traurig. Sie gab mir die Hand. Und sie schenkte mir etwas von sich.«
»Ach? Und was?«
»Werd ich dir nicht sagen. Bloß etwas zur Erinnerung. Dann küsste sie mich auf die Wange und ging. Ich sah sie draußen davongehen, während Gordy mich immer wieder auf den Arm boxte und Kevin wissen wollte, wieso die Frau mich geküsst hatte. Und das war’s.«
»Cool. Die werden geglotzt haben.« Jesse lachte. »Würd ich auch, wenn eine fremde Frau plötzlich einem Freund von mir was schenkt und ihn küsst. Niels zum Beispiel. Obwohl den keine küssen würde.«
»Haben sie. Und sich ordentlich lustig gemacht. Später gab es allerdings ziemlich Streit mit Gordy, auch wegen der Frau in dem Abteil. Denn unsere Ferien zu dritt, die waren für mich irgendwie schon vorbei. Ich konnte immer nur an sie denken. Ich hab versucht, sie zu zeichnen – kläglich. Und bis heute, siehst du ja, ist Belgien für mich vor allem die Geschichte von dem Nachtzug nach Mons.«
Damals in dem Zug hatte ich die Angst vor der Dunkelheit zum ersten Mal verloren, und die Furcht, von jemandem berührt zu werden, der mir fremd war, und ihn auch selber zu berühren, war mit verschwunden, denn sie gehörten zusammen, sie waren Angstgeschwister. Jesse erzählte ich das nicht. Ich fragte mich, wo die Zeichnungen geblieben waren, die ich noch zehn Jahre später von der Belgierin gemacht hatte. Tuschzeichnungen waren es, und wirklich kläglich waren sie nicht, nur drückten sie nichts von dem aus, was ich erlebt und empfunden hatte. Aber das gelang ohnehin selten. Kläglich war bloß die Erinnerung.
Jesse fragte, ob ich mir schon mal vorgestellt hätte, wie alt die Frau heute sei – Mitte sechzig, wenn er richtig rechne.
»Ich meine … warum willst du dahin, nach Mons?« Er betonte den Namen der Stadt so, dass er absurd klang, wie der Name eines erfundenen Ortes. »Doch nicht, um eine Oma zu treffen. Oder doch? Du hast ja grad keine Freundin. Soweit ich weiß, war deine letzte meine Zahnärztin!« Er lachte.
Echt witzig. Es waren nur noch wenige Kilometer bis Ville-sur-Haine, wo die Autobahn sich teilte und eine Trasse hinunterführte zur Altstadt von Mons. Dort hatte ich in einem kleinen Hotel ein Doppelzimmer reserviert.
Nein, ich hatte im Moment keine Freundin, zumindest keine feste. Ich hatte gelegentliche Freundinnen, schon seit Jahren, hatte mich mit diesem Zustand arrangiert und konnte mich nicht beklagen. Jedenfalls laborierte ich schon lange nicht mehr an einem Luststau. Ich hatte bloß keine Lust, über die Frauen nachzudenken, die sich mit mir abgaben, und von ihnen erzählen wollte ich noch weniger, am wenigsten von seiner Zahnärztin.
»Ich will sie ja nicht treffen. Abgesehen davon, dass ich gar nicht weiß, wie sie heißt, und sie bestimmt nicht wiedererkennen würde.«
»Und wieso willst du dann bitte nach Mons?«
»Will ich gar nicht mehr. Ich hab’s mir anders überlegt. Es ist gerade vier. Wenn wir weiter so gut durchkommen, schaffen wir’s rechtzeitig bis Bayeux. Spätestens gegen zehn sollten wir am Hotel sein, sonst schlafen die vielleicht schon oder lassen uns nicht mehr rein. Ich weiß nur nicht, ob wir im Dunkeln den Weg
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