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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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anderen ging, wo überall Bücher lagen und Modelle von Propellermaschinen herumstanden, für die er sich begeisterte. Die Flugzeuge der US Air Force, die versehentlich Mons bombardiert hatten, fielen mir wieder ein. Ich stellte mir vor, wie sie vor fast siebzig Jahren, als mein Vater acht war, hier entlanggeflogen waren, wie die Navigatoren in ihren Plexiglaskanzeln Ausschau hielten und markante Punkte in der sich unter ihnen erstreckenden Landschaft mit eingezeichneten Punkten auf ihren Karten von Somme, Marne, Lothringen, Elsass, Belgien und Rheinland verglichen. Ich malte mir aus, wie in einer Liberator oder Flying Fortress sich einer entschied, etwas erkannt zu haben, Gleise, Lokschuppen, eine Eisenbahnbrücke, ein größeres Bahnhofsgebäude, anhand dessen er sich schneller als erwartet über Aachen, Mönchengladbach oder Koblenz wähnte, weshalb er dem Bombenschützen den Befehl zum Ausklinken gab.
    Bestimmt hatte es schon 1944 eine Brücke über die Bresle gegeben, wahrscheinlich eine viel kleinere, über die ein Stück weiter südlich, mitten im Ort, die Leute aus Aumale ihre Fuhrwerke trieben und Autos holpern ließen. Im Spätsommer, als sich die Wehrmacht aus der Normandie zurückzog, waren Briten und Amerikaner hier durchgekommen und durch die Picardie, Französisch-Flandern und Belgien nach Osten vorgerückt bis zum Rhein.
    Ich trat die Zigarette aus und war schon in Rufnähe zum Wagen, als ich noch mal stehen blieb und zu dem Autobahnviadukt hinaufsah. Ich hätte nicht sagen können, wieso, und war mir wie gewöhnlich meiner Eindrücke nicht sicher, irgendwie aber schienen Form und Farbe der Brücke auch von damals zu erzählen, selbst wenn sie erst zwanzig oder dreißig Jahre nach Kriegsende gebaut worden war. Alles war gleich weit entfernt, es war unverändert gültig. Das schien die Brücke mit ihren zwanzig ypsilonförmigen Betonbeinen, der grauen Rampe und der grauen Platte, die das Flussbett der Ur-Bresle überspannte, zu sagen. Es lag an mir, Augen dafür zu haben. Und bei diesem Gedanken merkte ich, wie ich mich vor Neugier straffte und aufrichtete und wie ich mit einem Mal tatsächlich Lust bekam zu zeichnen.
    Natürlich wusste ich, dass jetzt keine Zeit war, eine Zeichnung oder nur Skizze von der Brücke zu machen, und ich war darüber nicht mal traurig, höchstens ein bisschen missmutig. So kam ich zum Wagen zurück und bemerkte erst da, dass die Fahrertür nicht mehr offen stand. Die Türen waren zu, aber nicht verriegelt, und der Mercedes leer. Jesse war nirgends zu sehen.
    Ich setzte mich ans Steuer und hupte drei-, viermal lange und in der abendlichen Ödnis auch für mich erstaunlich durchdringend. Nichts passierte. Der Himmel war dunkelblau, beinahe violett, fast von derselben Farbe wie die Lupinen, die kaum schwächer dufteten als die Lilien und Maréchal-Niel-Rosen im Wellingsbütteler Garten meiner Mutter. Im leichten Wind verursachten die Stängel ein leise rieselndes Geräusch. Keine Stunde mehr, dachte ich, und es ist stockfinster.
    Ein paar Minuten lang wartete ich ab. Dabei sah ich Jesse vor mir, wie er vor lauter Wut weglief, wie er sich an die Straße stellte und einen Wagen anhielt. War es möglich, dass er zu einem Fremden ins Auto gestiegen und ohne eine Nachricht zu hinterlassen abgehauen war? Ich malte es mir aus und hielt es für gut möglich und unmöglich zugleich. Ich sah ihn auf der Autobahn Richtung Le Havre und Bayeux fahren, am Steuer einen älteren Mann, der ihn ausfragte, ein Geschäftsreisender, ein Vertreter, dann wieder fuhr eine jüngere Frau das Auto, die sein beeindruckendes Französisch über alle Maßen entzückte. Fluchend schlug ich aufs Lenkrad, merkte aber auch, wie ich es allmählich mit der Angst zu tun bekam. Das Sandwich, die Wasserflasche, sein Rucksack, nichts war mehr da – als wäre Jesse überhaupt nie da gewesen, sondern ich die ganze Strecke allein gefahren. Ich malte mir die Reaktion meiner Mutter aus und ließ automatisch, wie sie es getan hätte, ruckartig das Kinn auf die Brust sinken. »Grün und blau schlagen werde ich sie!«, hatte sie einmal im Zorn gesagt, als Ira mit fünfzehn oder sechzehn zum ersten Mal über Nacht nicht nach Haus gekommen war. Ich hatte es auch deshalb nicht vergessen, weil wir nie, niemals von unseren Eltern geschlagen worden waren.
    Ich stieg aus und rief nach dem Jungen. Ein Stück ging ich noch mal den Feldweg hinunter, kehrte aber um, als ich mir sicher war, dass der Weg nirgends abzweigte. Ich ging am

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