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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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Wagen vorbei und stellte mich an die Landstraße. Dort stand ich vielleicht drei Minuten lang, ohne dass in der Halbdunkelheit die Scheinwerfer eines Autos oder Traktors auftauchten. Überhaupt hatte ich, seit wir in Frankreich waren, so gut wie noch keinen Menschen gesehen. Die Leute, die man sah, saßen in Autos. War man plötzlich wie zwangsweise im Freien, so überfiel einen die Unwirklichkeit, dann schmerzte die Verblüffung, wie simuliert alles wirkte. Die Kreissäge war verstummt. Die Brücke rauschte. Krähen krächzten über dem Fluss. In der Nähe erfüllte leises Summen die Luft – Herbstmücken kamen. Erbarmen! In regelmäßigen Abständen, mit langen Pausen dazwischen, rief ich nach Jesse und merkte von Mal zu Mal deutlicher, dass ich sein Verschwinden nicht wahrhaben wollte.
    Wieder am Lenkrad, nahm ich mein Handy und rief meine Mutter an. Sie war nicht überrascht, von mir zu hören, und ich wartete ab, ob Jesse sich gemeldet hatte. Sie erwähnte nichts, fragte nur, wie es ihm gehe und wo wir seien. Als ich es ihr sagte, war sie doch überrascht.
    »Ihr seid nicht in Belgien geblieben? Wieso nicht?«
    »Wir sind so gut durchgekommen«, sagte ich. »Wir versuchen, es bis zum Hotel zu schaffen. Das war es auch nur, was ich erzählen wollte. Da fällt mir ein … Hat Jesse sein Handy zu Hause liegengelassen?«
    Sie habe es nicht gesehen, sagte sie, und sein Zimmer habe sie schon am Mittag aufgeräumt.
    »Ist mal wieder eins weg, ja?«
    Ich hörte den kleinen Hund der Nachbarn bellen und fragte mich, ob er wohl immer noch kläffen würde, wenn alles Übrige schon vorbei und Vergangenheit war.
    »Wir finden es jedenfalls nicht«, sagte ich möglichst tonlos. »Gib mir doch bitte seine Nummer. Vielleicht finden wir’s, wenn wir es klingeln lassen.«
    »Die kann dir der Junge doch selber sagen!«, rief sie vergnügt und lachte mich aus.
    Und ich sagte: »Er hat sie vergessen.«
    Und meine Mutter: »Gib ihn mir mal.«
    Und wieder ich: »Geht grad nicht. Er ist auf dem Klo. Wir stehen an einer Raststätte. Es gießt in Strömen. Hörst du, wie es rauscht? Es donnert!«
    Ich hielt den Apparat ins Freie, nach oben, Richtung Brücke. Weshalb ich log, wusste ich nicht. Oder wusste es sehr genau – ein Relikt der alten Lust, sich zu wehren durch Erfindung, wenn sie einen von uns in die Enge getrieben hatten, um aus Ira oder mir etwas herauszubekommen.
    Oder einfach bloß aus Müdigkeit.
    »Ja, ich hör’s. Gott, bin ich froh, dass diese Reise mir erspart bleibt! Wenn ich mir bei so einem Sauwetter deinen Vater und seine Sehnenscheidenentzündung vorstelle. Das Grausen kommt mir da. – So, hier ist die Nummer. Hast du was zu schreiben, oder soll ich sie dir schicken?«
    »Schick sie lieber. Wir melden uns. Grüß Papa. Mach dir keine Sorgen, es ist alles okay.«
    Damit beendete ich das Gespräch. Ich drückte auf die Taste mit dem kleinen roten Hörer. Er wirkte wie eine winzige im Abendrot liegende Brücke, sollte aber einen Telefonhörer darstellen. Tote Leitung, dachte ich sofort. Jede Unterhaltung mit meiner Mutter erschien mir als ein unabwendbarer Beweis für Iras Tod. Deshalb glaubte ich, alles von der Frau, die uns zur Welt gebracht hatte, begriffen zu haben.
    Schon kam die SMS mit Jesses Nummer. Vor Beklemmung schlug mir das Herz bis in den Gaumen hinauf, als ich sie anwählte. Es klingelte. Ich merkte, wie wenig ich erwartete, dass er sich meldete. Es klingelte. Was würde ich also tun? Es klingelte, und ich hörte, das Klingeln war Musik, der Refrain eines alten HipHop-Stücks. Die Musik kam aus dem Wagen, von hinten, und als ich mich umdrehte zur Ladefläche, sah ich, wie sich der Junge dort unter der Wolldecke aufgerichtet hatte und mich mit bösen, traurigen Augen auslachte.

13
    J esse aß sein Sandwich und trank sein Wasser, während wir in den Abend hinein weiterfuhren. Unser nächstes Ziel war Neufchâtel-en-Bray, wo es erneut nach Westen ging und ich auf die E44 biegen würde. Sie führte nördlich an Rouen vorbei und bis nach Le Havre. Wir hatten eine Vereinbarung getroffen: bis Le Havre nichts von Nirvana. Nach Le Havre immer mal wieder ein Stück. Und die Songs dazwischen suchten wir abwechselnd aus.
    Die alte Wolldecke, unter der er sich hinten versteckt hatte, wickelte er sich um die Beine. Er hatte Iras lange Beine und litt unter derselben Fußkälte, die ihr zeitlebens zugesetzt hatte. Draußen wurde es frisch. Nebel, durchstochen von tief fliegenden Krähen, wogte in der

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