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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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klang, als würden vielmehr wir das Land willkommen heißen: »Bienvenue, Normandie!«

11
    B ei Aumale fuhren wir von der Autobahn ab und auf einer schmalen Landstraße gut anderthalb Kilometer zurück Richtung Osten. Jesse las Kevin Brennickes Straßenkarte und sagte voraus, was als Nächstes kommen würde. Eine Kurve. Eine Einmündung. Das Ufer der Bresle. An den Flussauen entlang, die schon dunkelgrün im Abend lagen, fuhr ich ein Stück nach Norden, im Rücken das Rauschen und Pfeifen des Fernverkehrs, der sich über die Autobahnbrücke wälzte. Jesse hielt Ausschau nach dem Teich oder Weiher, der rechterhand liegen musste, wo aber nur Weidenbäume und Moorwiesen waren, und sang dazu den Text von »Smells like teen spirit« mit, bis ich die CD ausstellte.
    »Ey! Mein Lieblingslied!«, rief er sofort empört. »Blasphemie.« Er griff zum CD -Player und stellte den Song wieder an. Das Gitarrenrambazamba begann von neuem.
    »Mach die Musik aus«, sagte ich ruhig. »Bitte. Guck dich doch mal um. Die passt hier wirklich nicht hin.«
    »Sagt wer?«
    »Ich! Reicht das nicht? Mach sie aus, verdammt«, herrschte ich ihn an.
    Er sah mich und ich sah ihn an, und wieder war ich mir sicher, dass Jesse wie ich und ich wie mein Vater aussah, wenn er außer sich war und sein dummes Gesicht machte.
    »Ich brauche Ruhe, wenigstens eine Viertelstunde lang. Silence – kapiert?«
    »Nö«, sagte er seelenruhig. »Wenn du Ruhe brauchst, warum regst du dich dann so auf? Wir sind noch nicht mal da.«
    Und ich sagte: »Doch. Wir sind da« – und bog nach rechts in einen Feldweg, wo ich anhielt und den Motor abstellte. Die Musik wurde gekappt, kein Strom mehr. Es wurde still. Aber das schien nur so. Der Lärm der Welt war immer noch da. Man hörte Grillen oder Zikaden, irgendwo weit weg eine Kreissäge, von deren Gellen Vögel aufgescheucht wurden, auch sie, dem spöttischen Geschrei nach, Stare. Und alles wurde überlagert von dem Rauschen und leisen Geratter, das von der Brücke herabdrang.
    Sicherheitshalber zog ich den Schlüssel ab. Der Weg führte auf den Rand eines Wäldchens zu, das zwischen Feldern voller halb verblühter Lupinen und den Pfeilern des Autobahnviadukts lag, vielleicht einen knappen Kilometer entfernt. Man brauchte nur geradeaus zu gehen, einen Schritt vor den anderen zu setzen, und die Schwere im Kopf würde sich lösen. Ich griff hinter mir nach der Tüte mit den Lunchpaketen und Wasserflaschen aus Mons.
    »Hier«, sagte ich und legte Jesse, als er nicht darauf einging, Sandwich und Flasche in den Schoß. Um mir nicht das Gesicht zuwenden zu müssen, blickte er aus dem Seitenfenster, wo in der Abenddämmerung nichts war außer Betonpfeiler und Lupinendolden, und spielte mit dem Knopf des elektrischen Fensterhebers. Das Fenster ging einen Spalt auf und rutschte wieder zu, auf und zu, auf und zu, tat das aber nur in Jesses Vorstellung. Als auch ich mich nicht rührte, stieg ihm das Blut in den Kopf, und er wurde rot vor unterdrücktem Groll wie seine Mutter.
    »Hinten in meiner Sporttasche sind ein paar Comics«, sagte ich, »keine Mangas, aber gute Comics und Graphic Novels, auch aus Japan. Guck sie dir an, wenn du Lust hast.«
    Er rührte weder das Wasser noch das Sandwich an. Wortlos steckte er sich stattdessen die Stöpsel in die Ohren, zog das Handy aus der Gesäßtasche und stellte Musik an. Es war ein Automatismus ohne jede Bedeutung oder Hoffnung. Stundenlang hatte er auf diese Weise in dem Zimmer voller Poster, Bücher und Spielzeug gesessen, das seine Bereitschaftspflegeeltern für Teenager wie ihn eingerichtet hatten. Wenn es Ira sehr schlecht ging und sie ein oder zwei Wochen für sich brauchte, um ins Leben zurückzufinden, kam Jesse zu Lewandowskis. Sie waren nett, engagiert, kinderlos, ein Erzieherpaar mit linksalternativem Hintergrund und Ferienhaus auf Gomera. Seit zwanzig Jahren nahmen sie Jugendliche zur Stand-by-Pflege bei sich auf, deren Eltern in der Krise steckten. Sie mochten Jesse, aber er sie nicht. Lewandowskis deprimierten ihn. Er wohnte nur deshalb bei Karen und Ingo, weil seine Großeltern und sein Onkel keine Zeit hatten – was er uns nicht zum Vorwurf machte. Immerhin holte ich ihn einige Male daheim ab und brachte ihn, verbunden mit einem Kinobesuch oder Essen bei McDonald’s, zu Lewandowskis nach Langenhorn. Einmal kam mein Vater mit, und zu dritt machten wir unterwegs Station in Fuhlsbüttel und sahen uns eine Flugschau mit alten Propellermaschinen und sogar einem Nachbau

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