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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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des »Flyer« der Gebrüder Wright an. Mein Vater nahm am Flughafen die S-Bahn, und als ich Jesse in Langenhorn ablieferte, fragte ich ihn, ob er lieber bei mir bleiben wolle, anstatt zwei Wochen mit Ingo und Karen zu verbringen. Doch er wollte nicht. »Ich muss jetzt rein«, sagte er vorm Haus. »Ich hab es Mama versprochen.«
    Ob er damals in seinem Zimmer im Reihenhaus der Lewandowskis Musik oder Hörbücher gehört oder ob er nur so getan hatte, um in Ruhe gelassen zu werden, wusste ich nicht. Aber wenn einmal kein Lastzug über die Brücke bei Aumale donnerte und wenn jenseits der Felder auch das Gellen der Säge aussetzte, dann war es im Wagen so leise, dass ich den Lärm hörte, der ihm durch den Kopf wummerte.

12
    S o ließ ich ihn sitzen. Ich nahm mein Essen, mein Wasser, stieg aus und ließ die Tür offen. Endlich allein, ging ich davon, lief in den Abend und roch den herbstlich schweren Lupinenduft und spürte den Zischelwind, der violette Wogen in das Feld drückte. Kaum hundert Schritte, schon hatte ich das Sandwich aufgegessen und die Flasche halb leer getrunken. Eine stille Freude, eine Abendgelassenheit redete ich mir ein, während ich Insekten über das Meer aus lilafarbenen Blüten hinfliegen sah und im Rücken die Blicke des Jungen zu spüren meinte, vor dem ich davonlief. In Wahrheit schritt ich nicht allein über den Feldweg, sondern schritt neben mir selbst her, sah mir in einer gedehnten Schrecksekunde dabei zu, wie gierig ich das Weißbrot verschlang und das Wasser hinunterstürzte, und sah mich in die Gegend schauen wie von einem allgemeinen Schrecken angesteckt. Ich schämte mich, aber konnte nichts dagegen tun. Mit aller Macht zog es mich zurück zu dem Mercedes, in dem der Sohn meiner toten Schwester saß, aber ich ging weiter, trotzig und gekränkt, und drehte mich nicht mal um. Ich schämte mich für meine Unbeherrschtheit, und wie ein Egoist kam ich mir vor, weil sich im Nirgendwo zwischen zwei Futterpflanzenäckern unter einer riesigen Brücke mein Körper so ungeniert selbstständig machte.
    Allen Ernstes hoffte ich dann einige Augenblicke lang, mich auf die kommenden acht Tage einstimmen zu können, nur indem ich mir diese Autobahnbrücke ansah. Aber die Bresle-Brücke sagte mir nicht das Geringste, nicht mal dass ich eine Viertelstunde zuvor selber darübergefahren war, konnte ich mir bei ihrem Anblick vorstellen. Im grauer werdenden Abend war sie ein dunkelgraues Ungetüm. Als steinerne Rampe zerschnitt sie die Weite, sprengte die ländliche Ruhe, sodass das Trudeln und Segeln über den Feldern und das Strömen und Schnellen im Fluss unwirklich wurde, unglaubwürdig angesichts des Tempos und Lärms, mit dem der Verkehr über sie hinbrauste. Jesse hatte recht. Zerfräsen, Zerschneiden, Nirvanas sägender Krach passte sehr wohl hierher. Lärm und Leiden am Lärm, beides zugleich lag in Kurt Cobains Stimme.
    Zwischen dem Lupinenfeld und dem Weg verlief ein schmaler Bewässerungsgraben, ölig braun, einbetoniert und schnurgerade, bis er sich in der dunklen Ferne verlor. Als ich mein Wasser ausgetrunken hatte, blieb ich stehen und hielt die leere Plastikflasche und Sandwichpackung noch eine Weile in der Hand. Dann, in einer zornigen und angewiderten Aufwallung, warf ich beides die Böschung hinunter. Das Plastik schwamm, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Es herrschte keinerlei Strömung in dem Graben, sein fast kastanienbraunes Wasser stand völlig still – und die Reglosigkeit rührte mich. Ich blieb selber stehen, betrachtete meinen Müll und ließ den Plan, bis zu dem Wäldchen zu gehen, fallen. Ohnehin war es zu weit entfernt. Über mir, im dunkelblauen Abendlicht scharf konturiert, so groß und laut wie ein landender Jet, stand die Brücke. Sie ist schön, dachte ich mit einem Mal, schön, weil sie etwas überspannt, was es nicht mehr gibt. Das Flüsschen Bresle, das auch den toten Graben speist, früher einmal, vor langer Zeit, ist es so breit und mächtig gewesen wie die Brücke, ein Strom, so infernalisch sich über Geröll wälzend wie der Verkehr, der jetzt hinwegbrandet über nichts als leere Luft.
    Ich steckte mir eine Zigarette an und ging langsam zurück, sehr langsam, und froh über jeden Schritt. Dieser einbetonierte Graben, früher einmal ist er vielleicht ein Bach gewesen. Ich sah auf meine Schuhe und dachte dabei an meinen Vater, mit dem ich sie gekauft hatte. Ich dachte an seinen Hobbykeller und seine Hobbykellerpantoffeln, mit denen er von einem Tisch zum

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