Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
Vom Netzwerk:
es hörte sich auch deshalb wirklich gut an, weil Jesse die Namen so schön aussprach. »Chamy«, »Montmarquet«, »Blagniel«, sagte er und überprüfte damit die Übereinstimmung von Straßenkarte und Ausfahrtsschildern.
    »Es müsste jetzt bald eine ziemlich große Brücke kommen. Die führt über die Bresle. Danach kommt Aumale. Da musst du raus«, sagte er und zupfte dabei auf seiner Luftgitarre den Basslauf von »Come as you are« mit, der Hymne seines Freundes Niels.
    Es hatte wenig Sinn, Jesse klarmachen zu wollen, dass zumindest das Gitarrenintro des Songs von Killing Joke abgekupfert war. Ebenso wenig hätte man Niels davon überzeugen können, dass dessen Lieblingscombo Green Day schon immer nach dem Punk der Stiff Little Fingers aus den frühen Achtzigern klang.
    »Echt? Nicht gut. Aber weißt du was: egal!«, hätte einer von beiden gesagt. Und dass sie Killing Joke nicht kannten. Und dass Killing Joke ein total bescheuerter Bandname sei. Authentizität war ein Kriterium von vorgestern. Todbringender Witz. Steife kleine Finger. Was waren das für Bandnamen verglichen mit Nirvana, dem großen Nichts?
    Ira hatte fließend acht Sprachen gesprochen. Am Lenkrad in mich selbst versunken, eine Pause herbeisehnend und immer begieriger die Ausfahrtsschilder lesend, versuchte ich mich wach zu halten, indem ich die acht im Stillen aufzählte und in alphabetische Reihenfolge brachte: Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch und Spanisch. Sie hatte in jedem Land, in dem sie sich länger aufhielt, binnen dreier Monate die Sprache gelernt. Oft war sie weitergereist, kaum dass sie das Gefühl hatte, die Landessprache zu beherrschen. Irgendwann warf sie sich selber vor, im Grunde nicht an fremden Ländern und Menschen interessiert zu sein, sondern nur am Lernen einer neuen, einer weiteren Sprache. »Wenn ich sie kann, hake ich sie ab«, sagte sie. »Wohin als Nächstes?«
    Dieses fragwürdige Talent, wie sie es selbst nannte, schien sie an ihren Sohn weitergegeben zu haben. Jesse war gut in der Schule, doch die meisten Fächer langweilten ihn bloß. Zum Leidwesen seines Großvaters interessierten ihn die naturwissenschaftlichen Fächer am allerwenigsten. Eine Zeit lang hatte er sich fürs Theater begeistert, war in Schulaufführungen aufgetreten und in Darstellendem Spiel mit »sehr gut« benotet worden. Sport ödete ihn an. Kunst sagte ihm nichts. Noch nie hatte er ein Wort über Zeichnungen verloren, geschweige denn über meine. Er liebte Musik, und deshalb war der Musikunterricht der allerschlimmste für ihn. Der Lehrer spulte sein Wissen von den Beatles ab. Alles gipfelte in den Beatles oder ließ sich auf die Beatleszurückführen, schon Beethoven, den der Musiklehrer beharrlich »Beathoven« nannte, sei nur eine Vorbereitung auf die Beatles gewesen. Seit 1970 war die Musikgeschichte zu Ende.
    In den Sprachfächern aber – Englisch, Französisch und seit kurzem Spanisch – fiel ihm alles in den Schoß. Vokabeln brauchte er nicht zu pauken, durchlesen reichte. Lyrikinterpretationen in Englisch-Klassenarbeiten fügte Jesse eine Übersetzung des Gedichtes bei. »Very well done« schrieb seine Lehrerin darunter. In Französisch eine schlechtere Note als eine Eins zu bekommen, war ein Affront, ein Eklat.
    All das wusste ich von meiner Mutter. Wenn sie mir von Jesses Schulleistungen erzählte, fragte ich mich, ob er vielleicht seiner Mutter nacheiferte. Drei von Iras sieben Fremdsprachen lernte er bereits. Irgendwann würden ihn meine Eltern nicht mehr davon abhalten können, auf die Suche nach seinem Vater zu gehen. Vielleicht würde er nach England gehen, vielleicht in Netanja oder Tel Aviv Hebräisch lernen. Fragte man ihn, was er später machen wolle, ob er vielleicht Germanistik, Anglistik oder Romanistik studieren wolle, lautete Jesses Standarderwiderung, er habe keine Ahnung. In letzter Zeit hatte er gegenüber meinem Vater einige Male angedeutet, er wolle Medizin studieren, Arzt werden, am besten Chirurg, weil Chirurgen gegen den Krebs kämpften und am meisten verdienten. In welchem Fachbereich der Mann aus Tel Aviv praktizierte, wusste ich nicht. Immerhin aber wusste ich, dass kein Arzt der Welt die eigene tote Mutter wieder lebendig machen konnte.
    »Da ist die Brücke!«, rief Jesse. »Und da ist der Fluss! Voilà le fleuve. Très petit, Monsieur. Was bist du klein, du kleine Bresle!«, zwitscherte er und las das Willkommensschild laut vor, sodass es aus seinem Mund

Weitere Kostenlose Bücher