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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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sondern vielmehr der junge Kommentator nach einem Vermissten Ausschau halten, allerdings wohl kaum nach mir. Gesucht wurde ein tatsächlich unsichtbarer Dritter.
    Schneller als erwartet kamen wir an Bolbec und Rogerville vorbei. Als die ersten auf immer platterem Land errichteten Industrieanlagen und Öltank-Areale Le Havre ankündigten, musste ich an den manchmal brachialen Humor denken, den Jesse mit Niels teilte. Ich sah die beiden vor mir, wie sie draußen vorm Haus auf dem Mäuerchen saßen und sich über irgendetwas auf dem Display ihrer Handys schieflachten, und ich war mir sicher, dass es Niels war, den sich Jesse auf seine Weise dazuimitierte, weil er seinen Freund umso stärker vermisste, je näher wir ihm kamen.
    Wie es sich für den Prinzregenten gehörte, amüsierte ihn besonders mein Telefonat mit seiner Großmutter königlich. Er hatte es in voller Länge aufgenommen. Bild und Ton belegten seiner Ansicht nach eindeutig die Kaltblütigkeit meiner Tricksereien.
    »Wir stehen an einer Raststätte. Es gießt in Strömen. Hörst du, wie es rauscht? Es donnert!«
    Man sah, wie ich das Handy aus dem Seitenfenster hielt, nach oben Richtung Brücke, wo der Verkehr lärmte, und, meinte Jesse, man sah meinem Gesicht an, dass es mich keine Überwindung kostete, meine Mutter mit einer Lüge abzuspeisen. Nein, es schien mir sogar Vergnügen zu bereiten.
    »Diesen Film löschst du«, sagte ich im selben Moment, als wir auf die Seine-Brücke fuhren und rechterhand kurz die breite silberne Mündung und das offene Meer zu sehen waren. »Meinetwegen behalt die anderen, die sind ja ganz lustig. Aber diesen löschst du.«
    »Und wenn nicht?«
    »Gibt es Dresche.«
    »In echt? Ich behalt ihn. Endlich Dresche.«
    »Ich meine es ernst.«
    Ich sah ihn an und sah den Fluss und das Meer, die sekundenlang Hintergrund seines Gesichts und im nächsten Augenblick wieder verschwunden waren hinter Tanks, künstlichen Böschungen, Lagerhallen und in der Ferne der Steilküste im roten Licht des Sonnenuntergangs. Im Radio lief eine Sendung über Pink Floyd. Zwei Männer, die ich nicht verstand, stellten andächtig wispernd das Wish you were here -Album vor.
    Leuchte weiter, du verrückter Diamant, dachte ich.
    So leicht gab Jesse Lee nicht auf. Anders als seine Mutter und sein Onkel scheute er vor Konflikten nicht zurück. Er war tapfer, verwegen, mutig, beherzt und kühn, und er kannte die Unterschiede wie jeder Königssohn, dessen Klinge aus Worten scharf war und locker saß. Hierin glich er weniger seiner Mutter als seiner Großmutter, der Frau, deren Ehre er hier verteidigte und die, über kurz oder lang, noch jeden Widersacher niedergerungen hatte.
    »Nur ist der Film leider ein Faustpfand«, sagte er, »ein Beweisstück! Dafür, dass mein Onkel ein echter Schwindler ist.« Er lachte, wohl um deutlich zu machen, dass er es zwar ernst, aber nicht böse meinte. »Hey, Marky Mark! Du lügst einfach so deine Mutter an!«
    Damit wagte er sich weit vor. Jedem anderen hätte ich … schwer zu sagen. Bleib ganz ruhig. Bleib unnachgiebig und weis ihm nach, wie absurd seine Unterstellung ist, dachte ich. Ich hätte seiner Oma bloß ein bisschen was vorgemacht, sagte ich. Damit sie sich keine unnötigen Sorgen machen müsse, hätte ich ein paar Kleinigkeiten dazuerfunden, um der Echtheit willen. Wenn ich darüber nachdachte, konnte ich ihm jedoch nur recht geben. Ich hatte keine Ahnung, was in mich gefahren war.
    »Lösch den Film, mein Lieber, ich sag es dir im Guten. Du hast Zeit, bis wir in Caen sind. Oder du erlebst was.«
    Aber was sollte er schon erleben. Womit wollte ich ihm denn drohen.

14
    V on mir hatte der Junge nicht mehr zu befürchten als gekränktes Schweigen. Ich wusste und er wusste, dass ich Auseinandersetzungen aus dem Weg ging, unabhängig davon, wie alt derjenige war, mit dem ich dazu verdammt sein sollte, um einen Ausgleich zu ringen. Ich wollte nicht ringen. Ringen führte zu nichts, jedenfalls nicht zu gerechterer Betrachtung. Daher rang ich auch nicht um ein Bild. Eine Zeichnung entstand, während ich das Gesehene in Bewegung übertrug. Was mich bewegte, ließ meine Hand den Stift übers Papier führen. Oder nichts entstand. Dann lag die Hand nur da, so regungslos auf dem Zeichenblock, wie ich im Innern fühllos blieb.
    Meine Skizzen waren keine Kompromisse, auch wenn mein Vater das Gegenteil behauptete. Nur selten waren sie mehr als Schilderei, wie es bei Gottfried Keller hieß, und etwas wahrhaft Fantastisches,

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