Nie mehr Nacht (German Edition)
mich los, riss mich mitsamt Rucksack zu Boden und beschimpfte mich als weibersüchtigen Hirnamputierten. Meine Erwiderung bestand darin, dass ich alles, was ich von seinen Sachen durch die Gluthitze geschleppt hatte, wortlos auspackte und in das versengte Gras warf. In jedem Auto, das uns mitnahm, bis wir in Hamburg waren, versuchte er sich zu erklären und seinen Aussetzer wiedergutzumachen. So saß ich immerhin vier Tage lang meistens vorn, doch ich sagte während der ganzen Rückreise nur das Nötigste. Und auch später redete ich nie wieder mit ihm. Es gab ihn nicht mehr für mich. Gordy hatte aufgehört zu existieren wie seine Lieblingsband E.L.O. Genauso wie das Riesenfaultier am Ende des Pleistozäns war er in meiner Welt ausgestorben.
Meine Unnachgiebigkeit verlängerte mein Gekränktsein ins Endlose, und Möglichkeiten zur Versöhnung rückten in immer weitere Ferne, ganz so, als wäre ich auch nach dreißig Jahren noch immer mit Gordian unterwegs oder als würde sich Caen mit jedem Kilometer, den ich auf der Autobahn durch die Normandie zurücklegte, weiter von Le Havre entfernen. Je schneller ich fuhr und je nervöser Jesse wurde, umso rascher wich unser Ziel zurück und wurde die Nacht dunkler.
Meine Mutter zeigte jedem, dass Niels ihr zuwider war, und ließ den Jungen das deutlich spüren. Sie sprach kaum mehr mit ihm als ich mit Kevins Frau. Blieb Niels zum Essen, pfefferte ihm meine Mutter das Besteck hin. Richtete er das Wort an meinen Vater, grinste sie spöttisch oder verdrehte wenigstens die Augen.
Seine Ethik des Kompromisses sicherte meinem Vater ein größtenteils friedvolles Miteinander nicht nur mit meiner streitbaren Mutter, sondern auch mit Nachbarn, früheren Kollegen und fast allen übrigen Mitmenschen. Er war ein besonnener Zeitgenosse, gerade weil er feste Prinzipien hatte und diese, wenn es sein musste, mit Verve vertrat. Unterhielt ich mich mit ihm, so verblüffte mich immer wieder, worüber er sich nicht alles eine Meinung gebildet hatte. Denn verglichen mit ihm hatte ich eine Vorstellung, ein Bild oder eine Meinung von nur sehr wenigem. Und die paar Dinge, von denen ich mir tatsächlich ein Bild gemacht hatte, waren für meine Eltern ebenso unverständlich und deshalb belanglos wie für die meisten Leute, die ich kannte. Wenn mein Vater und ich uns unterhielten, sprachen wir manchmal über Leonardo oder Dürer, die er verehrte, und auch die Vorliebe für Scribbles, schnelle Skizzen, hatten wir gemein. Doch viel mehr Berührungspunkte gab es nicht. Mit Gedanken zu Gesten in Runges Selbstporträts oder zu Tiepolos Hundezeichnungen hätte ich ihn gelangweilt.
Eine Meinung zu haben, darauf kam es für meinen Vater an. Nichts anderes machte einen zum mündigen Bürger, zum Demokraten und, wie er es sah, Liberalen. Nach seiner Auffassung hatte jeder das Recht auf eine eigene Meinung, gleichgültig, worum es ging. Doch musste auch jeder dazu angespornt werden, die eigene Meinung zu vertreten. Erst wo unterschiedliche Auffassungen aufeinandertrafen, war ein Kompromiss denkbar.
15
W oran denkst du grad?«, fragte Jesse mitten in diese unerquicklichen Grübeleien hinein.
Auch er schien mit den Gedanken ganz woanders. Offenbar war er es müde, eine CD zu hören, die er auswendig kannte, und dabei abwechselnd mit iPhone und iPod herumzuspielen. Wenn er aber mal beides ausschaltete, wurde er auf der Stelle raschlig und musste sich entweder bewegen oder, weil Bewegung nicht möglich war, drauflosplappern. Keine Stunde mehr, und er war am Ziel, am nächtlichen Meer bei seinem Freund Niels.
Ich sagte ihm die Wahrheit: »An einen Marder, daran denk ich grad.«
»Aha. Wie spannend«, lautete seine Antwort. »Und an was für einen? Halt: Ich weiß schon – an den Panzer!«
Nein, nicht an den Schützenpanzer, sagte ich, obwohl auch das sicherlich lohnenswert wäre. Drei Jahre noch, dann werde er nämlich in so einem Marder vom Kasernenhof zum Schlammrobben gebracht, kurz geschoren.
»Ich glaub nicht«, meinte er. »Die Wehrpflicht wurde abgeschafft, nicht gehört? Außerdem hätte ich verweigert. Niels auch.«
»Na, darin habt ihr ja Übung.«
Was mir durch den Kopf gehe, sei ein Tier, sagte ich, ein ganz bestimmter Marder. Ich würde ihm davon erzählen, sobald er den Film gelöscht habe.
»No way!«, kam es triumphal zurück. »Den behalt ich, bis ich achtzehn bin. Wer weiß, vielleicht stell ich ihn sogar ins Netz.«
Unser Scheinwerferlicht huschte über ein grünes Schild, das uns
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