Nie mehr Nacht (German Edition)
die Anoraktasche brummt.
Auf meine Frage, worüber er sich mit dem Kassierer an der Raststätte unterhalten hatte, wusste Jesse keine Antwort. Inzwischen war es draußen völlig dunkel, doch davon ließ ich mich nicht irritieren. Die Gewissheit, dass wir auf dem letzten Wegstück waren, stimmte mich heiter und ausgelassen, und eine Zeit lang kam ich mir beinahe schwerelos vor, wie wir da so durch die Nacht fuhren und dabei aßen, Jesse Pommes frites und ich ein Käsecroissant mit zerschrumpeltem Salatblatt.
»Ich hab bloß irgendwas mit ihm geredet«, meinte er irgendwann. »Wollte ihn ablenken, weil ich eigentlich was klauen wollte, für Niels als Geschenk. Hab ich dann aber seinlassen.«
Das erste grüne Schild, das nur noch Bayeux ankündigte, 27 km, stand verlassen am Fahrbahnrand.
So finster wie möglich sah ich ihn an.
»Dir ist klar, dass du sofort nach Hause fährst, sollte so was nur einmal vorkommen.«
»He, Mann, das war ein Scherz! Hab ich dir das Restgeld zurückgegeben oder nicht?«
»Ja, hast du. Hab ich da Glück gehabt?«
»Nein, hast du nicht. Weil ich nämlich nicht klaue«, sagte er. »Aber ich hab ja wohl Pech, dass du das Geld, das Oma dir für mich gibt, zum Tanken ausgibst! Und du hast Pech, dass sie mir sagt, wenn sie dir Geld für mich gibt!«
Tonlos sagte ich, dass er das Geld gern haben könne, sobald er Rücksicht auf andere Leute nehme, zum Beispiel mich.
Wann er denn keine Rücksicht auf mich genommen hätte, wollte er empört wissen. Er nehme immer Rücksicht!
»Du kannst andere Leute ohne deren Erlaubnis nicht filmen, und hast du sie doch gefilmt, dann musst du den Film löschen, falls sie das wünschen. So ist es nun mal, und dafür gibt es Gründe. Füll ein vierseitiges Antragsformular aus, und ich entscheide, ob du den Film behalten kannst.«
»Ich werde deinen blöden Film löschen«, maulte er. »Aber erst, wenn ich es will. Ich meine, bitte: Wem gehört mein Handy? Mir oder mir? Abgesehen davon, dass du nicht wünschst, ich soll den Film löschen, sondern es befiehlst.«
So ging es weiter. Schluss mit der Ausgelassenheit. Wir kamen zu keiner Übereinkunft, und ich hatte keine Lust, mich durchsetzen zu müssen. Ich wollte, dass er das respektierte, fürchtete aber, dass ich zu viel von ihm verlangte.
»Ist gut«, sagte ich nach einer Weile und meinte das Gegenteil: »Du wirst schon sehen, was du davon hast – gar nichts.«
Jesse blickte hinauf zum Spiel des Lichts an der Windschutzscheibe. Entgegenkommende Scheinwerfer und vorausfahrende Rücklichter spiegelten sich dort, aber auch das Blau seines Handydisplays war auf dem Glas zu sehen. Das Lichterspiel vollzog seltsame, dabei regelmäßige Bewegungen, es wechselte, und doch blieb es dort, so wie sich die Strömung eines Bachs zugleich veränderte und gleichblieb mit dem Vorrücken der Sonne.
Schließlich trat ein, was der Zweck der ganzen Streiterei war, Ruhe. Ich sagte nichts mehr, und nach ein paar letzten ins Dunkel genölten Flapsigkeiten hielt auch Jesse den Schnabel. »Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es; Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn«, hieß es im Grünen Heinrich . Allerdings meinte Gottfried Keller damit bestimmt eine andere Ruhe.
»Halt an«, hätte meine Mutter zu meinem Vater gesagt. Und sie hätte sich zu Ira und mir umgedreht und uns angefaucht: »Wir fahren nicht weiter, bis ihr Ruhe gebt. Verstanden? Habt ihr das verstanden? Und wenn es bis morgen früh dauert – wir werden hier stehen, hier auf diesem Fleck, bis ihr schwarz seid.«
Und mein Vater hätte abgebremst. Womöglich wäre er auf die Kriechspur gefahren und hätte am helllichten Tag oder mitten in der Nacht den Warnblinker eingeschaltet. Aber nie und nimmer hätte er wirklich anhalten müssen. Wir hätten Ruhe gegeben, Ira und ich wären ruhig gewesen, so lange, bis mein Vater die allgemeine Versöhnung angemahnt und meine Mutter gesagt hätte, sie vertrage sich mit jedem, mit jedem, und jetzt Ruhe.
Ausgerechnet meinem Vater, einem Verfechter zweckorientierter Lektüre, der zuletzt als Architekturstudent zwei Romane von John Steinbeck und seither in seiner Freizeit nur Bücher über Aeroplane, Zeppeline und die Geschichte des Luftkriegs gelesen hatte, schenkte meine Mutter zu seinem fünfzigsten Geburtstag den dicken Wälzer eines seit beinahe hundert Jahren toten Schweizers. Zwar staunte er, dass jener erfundene Mensch, von dessen Kindheit und Jugend, ersten stürmischen
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