Nie mehr Nacht (German Edition)
mitteilte, wie weit es bis Caen war, keine zwanzig Kilometer. Ich sah es und er sah es, somit war uns beiden klar, wie viel Zeit ihm noch blieb. Ich war gespannt, ob er einlenken würde, und falls er es tat, wie er es anstellen wollte, dabei das Gesicht zu wahren. Denn darum ging es ja wohl.
Die Schwachstelle der Kompromisstheorie bestand darin, dass Tiere und Pflanzen keine Meinung hatten. Zumindest taten sie ihre Ansicht nicht jedem Dahergelaufenen kund. Die Meinungsbekundung einer Wacholderdrossel oder Lilie war schwer zu verstehen. Mit einer im Weg stehenden Trauerweide ließ sich kein Kompromiss schließen, man konnte sie entweder stehen lassen, umpflanzen oder fällen – die Trauerweide äußerte sich nicht. Kein Protest, kein Diskutieren und kein Applaus. Die Weide lebte und wuchs oder ging ein.
Ich war kein zielstrebiger Mensch. Richtig Halt fand ich eigentlich nirgends und hatte wenig, woran ich glaubte, nur einen vagen, windigen Traum von einer gewissen widerständigen Schönheit und widersinnigen Ordnung. Vielleicht weil ich mich den Trauerweiden verbunden fühlte, fasste ich ihr kompromissloses Verhalten nicht als einfältig auf. Ich empfand es als durchaus geistreich, wenn nicht weise, und so ging es mir mit vielen leichtfertig für unbeseelt gehaltenen Tieren, Pflanzen, Pilzen, sogar Steinen, Bushaltestellenhäuschen und Garagen.
Eine Garage war weit mehr als ein verschließbarer Autostellplatz, in dem man sich ungestört das Leben nehmen konnte. Proust vermutete, dass die Unbeweglichkeit der uns umgebenden Gegenstände nur von unserer vermeintlichen Gewissheit herrührte, diese und keine anderen Dinge vor uns zu haben. Verantwortlich für ihre Erstarrung war nur die Starrheit des Denkens, mit der wir ihnen begegneten. Noch in einer unserer letzten gemeinsamen Nächte hatte ich mich mit Ira über Prousts Sichtweise unterhalten, aber nicht begriffen, wie wörtlich sie das alles nahm.
»Außerdem weiß ich, an welchen Marder du denkst«, sagte Jesse. »An den nämlich, der Opa mal über den Weg lief, den Nagetieralbtraum seiner schlaflosen Nächte.«
Ich sagte nichts. Ich hatte an einen anderen Marder gedacht, einen, den Keller beschrieb, ein zahmes wie verzaubertes Tier, das den grünen Heinrich morgens wecken kam, sobald er sich im Heimatdorf seiner Mutter aufhielt. Aber weil ich neugierig war, was mein Vater dem Jungen von der Geschichte erzählt hatte, nickte ich.
Wir kamen durch Mondeville, die ersten Ausläufer der Stadt. Und schon ging es über die Orne, einen der Flüsse, die Kevin erwähnt hatte und deren Brücken er in seinem Dossier beschrieb. Am anderen Ufer der Orne lag Caen, gelb leuchtete die Stadt in der Dunkelheit.
»Er hatte auf einer Baustelle mal einen Marder zum Feind, hat Opa mir erzählt.« Jesse blickte aus dem Seitenfenster. »Der hatte sich in einem Rohbau eingenistet, kaum dass das Dach drauf war. Stimmt’s? Sogar angegriffen hat der ihn. Irre Geschichte.«
Ich schüttelte den Kopf, nicht der irren Geschichte wegen, sondern weil ich nicht gewillt war, Jesses Vermutung zu kommentieren. Er hielt das Handy in der Faust. Ich zeigte darauf und sagte gelassen, mit freundlichem Nachdruck: »Löschen.«
»Du hast gesagt, ich hätte Zeit, bis wir in Caen sind.«
»Und wo sind wir?«
»Auf der Umgehungsstraße.« Ein weiteres grünes Schild flog vorbei, und darauf konnte man es lesen, Boulevard Périphérique. »Was nichts anderes bedeutet, als dass wir an Caen vorbeifahren, aber nicht in Caen sind.«
Ich fragte ihn, ob ich also an der nächsten Ausfahrt raus und nach Caen reinfahren solle, damit er den Film endlich löschte.
»Mach.«
An der Porte d’Angleterre, kurz nach dem Caen-Kanal, führte die D515 in nördlicher Richtung der Küste entgegen. An dem Kanal lag Bénouville, wie ich aus Kevins Dossier wusste, er hatte den Ort auch auf der Karte markiert. Bei Bénouville waren in der Nacht zum 6. Juni 1944, dem D-Day, sechs Horsa-Lastensegler der Royal Air Force gelandet, um zwei Brücken über Orne und Caen-Kanal einzunehmen. Die alte Ornebrücke, die später Horsabrücke genannt wurde, gab es heute nicht mehr, die über den Kanal aber, die Pegasusbrücke, sollte ich für St:art zeichnen. Einer der Flieger dieser sechs Horsa-Gleiter war McCoy Lee gewesen. Er war der jüngste der zwölf Piloten, hatte ich gelesen, achtundzwanzig Männer transportierte sein hölzerner Segler im Bauch. Von dem Flug, der Landung und der Erstürmung der Brücke handelte McCoy Lees Buch.
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