Nie mehr Nacht (German Edition)
Geboren wurde er 1925 in Macclesfield bei Manchester. Im Sommer 1944 war er neunzehn.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, an der Ausfahrt abzufahren. Jesses Häme brachte mich in Rage, ich war nahe daran zu explodieren, fühlte mich aber zugleich ohnmächtig wie mein Vater gegenüber einem Marder, dem mit Kompromissen nicht beizukommen war. Eine erste, zweite und dritte Ausfahrt zum Zentrum von Caen tauchte auf und verschwand im Rückspiegel. Jesse stellte die Musik aus, nahm sich die Straßenkarte und verfolgte stumm unser Vorankommen. Es war kurz nach neun. Die Umgehungsstraße endete und wurde erneut zur N13. Dunkle Waldstreifen und Felder wellten sich dem verborgenen Meer entgegen. Dazwischen lagen Steilküste, Strand, Bunkerruinen und das L’Angleterre . Ein Stück weiter südlich sackte eine Abendmaschine mit voraustastenden Scheinwerfern dem Flughafen entgegen. Ein Schild kündigte eine Raststätte an, und mir erschien die grüne Tafel wie ein Freund, der mich vor Hunger und Durst bewahrte und von dem grässlichen Verlangen nach einer Zigarette erlöste.
»Diese Raststätte samt Tankstelle gehört eindeutig nicht mehr zu Caen«, sagte Jesse, als ich neben den Zapfsäulen stoppte. »Unsere Abmachung bleibt bestehen.« Sicherheitshalber stopfte er sich das Smartphone mit dem Film darauf in die Hosentasche.
»Wie du meinst. Ich tanke«, sagte ich. »Dann fahr ich vor und parke, um eine zu rauchen. Du bezahlst. Merk dir die Zapfsäulennummer. Hier ist Geld.« Ich gab ihm einen der Hunderter aus meiner Jackentasche. »Und bring uns was zu essen mit. Vielleicht gibt’s ja Cheeseburger, Döner oder Pommes. Coolios Grundnahrungsmittel eben.«
»Klar. Schon kapiert.«
Er nahm den Schein und stieg aus, und während ich dann tankte, sah ich ihm dabei zu, wie er in dem Snackshop umherging. Ein bisschen kam es mir so vor, als wäre auf wundersame Weise Wirklichkeit geworden, was ich in dem Telefonat mit meiner Mutter erfunden hatte. Zwar regnete und donnerte es auch hier nicht, immerhin aber stand Jesse in einem Shop, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, und fast wie ein Déjà-vu war es dann, ihn mit seinem Skatershirt dabei zu beobachten, wie er etwas aus einem Regal nahm, vor einem Zeitschriftenständer stehen blieb und schließlich mit dem schnauzbärtigen Alten an der Kasse quer durch den ansonsten menschenleeren Minisupermarkt ein lockeres und offenbar sogar amüsantes Gespräch führte.
Ich parkte den Wagen vor dem milchig erleuchteten Raststättenanbau, stieg aus, zündete mir eine Zigarette an und öffnete die Heckklappe. Eine Zeit lang ging ich rauchend im Lichtkegel der Laterne umher und überlegte. Dann aber stand mein Entschluss fest. Ich zerrte die Wolldecke beiseite. Ich griff mir den dreißig Jahre alten Kocher. Ich raffte die Zeltplane zusammen und wickelte die Gummistiefel darin ein, die ich seit St. Petersburg mit mir herumschleppte. Und ich kippte den Inhalt der Sporttasche auf die Ladefläche, Bücher, Kataloge, Magazine, Comics von Bilal und Loustal und zwei von Taniguchis Graphic Novels. Ich sortierte Kellers Grünen Heinrich und McCoy Lees Nachrichten von Pegasus aus und stopfte den Rest zusammen mit Kocher, Zweimannzelt und Russenröhrenstiefeln zurück in die Tasche. Sie war so voll, dass der Reißverschluss nicht mehr zuging, und viel zu groß, um in einen der Rastplatzmülleimer zu passen.
16
W ie wunderbar. Wie beflügelnd, den ganzen Plunder los zu sein! Schon lange nicht mehr hatte ich mich so befreit gefühlt. Der weiße Seidenschal war mit dreißigjähriger Verspätung nach Mons zurückgekehrt, und der andere Krempel würde in alle Himmelsrichtungen davonfliegen, noch ehe die Nacht vorbei war. Die russischen Gummistiefel konnte ein Fernfahrer gebrauchen, das Zelt und den Kocher nahmen ein paar junge Anhalter mit. Und die Bücher, Runges Zeichnungen, mein Buch über Tel Aviv, Rio, St. Petersburg und New York, Storys von Hemingway, die ich hatte wiederlesen wollen … Bücher fanden ihren Weg allein. Das hatten sie immer getan, es war ihre Aufgabe.
Und deine? Was ist deine? Am liebsten hätte ich gleich noch mal angehalten und auch meinen Koffer nach Klamotten durchforstet, die ich dann irgendwo auf einem dunklen Parkplatz hätte in die Bäume hängen können. Dieses Ballastabwerfen ist erst der Anfang. Nimm dir vor, jeden Tag was auszusortieren und dich davon zu trennen, sagte ich mir, und wenn es nur eine Socke ist oder eine Batterie zu einem Gerät, von dem dir dann nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher