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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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Liebschaften und ersten bitteren Enttäuschungen der Roman handelte, genauso hieß wie er selber. Und dennoch las Heinrich Lee, mein Vater, das Buch über diesen anderen Heinrich Lee nie. Ein ausgedachter junger Zeichner, der herausfand, dass er nicht Zeichner, sondern Dichter war, interessierte ihn nicht. »Für ruhigere Stunden, Tage und Jahre – immer Deine Rebecca«, hatte meine Mutter als Widmung hineingeschrieben. Ich wusste nicht mehr, wann ich das Buch entweder von meinem Vater ausgeliehen oder es einfach mitgenommen hatte. Ich hatte den Grünen Heinrich schon sehr lang.
    In dem Rohbau, dessen Fertigstellung der junge Architekt Heinrich Lee beaufsichtigte, hatten sich Mäuse eingenistet. Eine ganze Mäusesiedlung war in den Dachstuhl gezogen und musste dort sorglos gelebt haben, bis zufällig ein Marder davon Wind bekam. Er fraß die Mäuse nachts, tagsüber füllte er unter dem First seine Latrine, bis es dort schließlich so stank, dass ein Maurerpolier meinen Vater alarmierte. Als er eines Abends allein in das Dachgeschoss hinaufstieg, sah er nicht nur das Gemetzel mit an, sondern sah sich dem ertappten und in die Enge getriebenen Jäger auch selber gegenüber. Der Marder fauchte, sagte mein Vater. Dunkelbraune, böse Augen hatte er. Und richtete er sich auf, dann war er so groß wie ein Dackel. Als mein Vater ihn mit einer Eisenstange zu verscheuchen versuchte, ging der Marder auf ihn los, sprang ihn an und biss nach ihm – sodass nicht das Tier hinausflüchtete in eine Nacht des Sommers ’64, sondern er selber, Ende zwanzig, frisch verheiratet, kinderlos. Ira und ich, wir waren noch Sterne.
    Und das Tier dachte nicht daran, über Nacht Reißaus zu nehmen, was in den Augen meines Vaters wohl ein Kompromiss gewesen wäre. Der Marder blieb da, fraß die Mäuse und verteidigte sein Dach, sobald mein Vater abends hinaufging, um ihn an die frische Luft zu befördern. Wochenlang fuhr er beinahe jede Nacht hinaus zu dem leerstehenden Haus am Waldrand. So wenig wie die Eisenstange richtete Gift etwas aus. Auch tagelange Lärmbeschallung half nicht weiter. Der Marder schien taub zu sein, doch nur so lange, bis er Heinrich Lee kommen hörte. Dann fauchte er und quiekte. Unterdessen fraßen die Mäuse das Gift, der Marder aber nicht etwa die qualvoll verendeten Nager. Nur über deren wimmelnde Brut fiel er her.
    Und das Ende der Geschichte: Während mein Vater schon mit einem Kammerjäger sprach und ein Buch über Steinmarder studierte, entließ ihn der Hauseigentümer aus seinem Vertrag. Im Parterre und ersten Stock zogen Mieter ein, und angeblich vertrieben sie den unliebsamen Bewohner aus dessen Mansarde. Ob der Marder tatsächlich geflohen oder nicht doch erlegt worden war, spielte allerdings nicht wirklich eine Rolle. Fortan lebte er nämlich im Kopf meines Vaters und hatte ein Dachzimmer für sich allein. Umgeben von Beutemäusen, die nie aufhörten nachzuwachsen, fauchte er dort und war der Stimme ganz nah, die mal sanft und mal aufbrausend nach Verständigung suchte, sie aber nicht fand.

17
    B retteville-l’Orgueilleuse, Sainte-Croix-Grand-Tonne. Kaum waren die gelben Lichter von Bayeux in Sicht, konnte Jesse nicht länger an sich halten. Als müsse er sich für die Wiedervereinigung mit seinem lang vermissten Gagpartner in Stimmung bringen, brach die Albernheit aus ihm hervor. Hatte ich das gesehen, auf dem Schild? Drei Bindestriche in einem Ortsnamen! Man stelle sich vor, Bretteville-l’Orgueilleuse würde sich mit Sainte-Croix-Grand-Tonne zu einer Ortschaft verbinden. Wie würde sie heißen, wenn weder Bretteville-l’Orgueilleuse noch Sainte-Croix-Grand-Tonne auf den eigenen Namen verzichten wollte? Sainte-Croix-Grand-Tonne-Bretteville-l’Orgueilleuse? Bretteville-l’Orgueilleuse-Sainte-Croix-Grand-Tonne? Genauso gut war natürlich Grand-Tonne-l’Orgueilleuse-Sainte-Croix-Bretteville möglich.
    »Irgendwann, wer weiß«, sagte er, »wird dann jedes Kaff in der Normandie Teil des einen großen Namens sein – eines Namens aus hunderten Namen mit hunderten Bindestrichen! Ich kann ja mal versuchen, ihn zusammenzukriegen.« Er hielt sich die Karte dicht vors Gesicht. »Soll ich?«
    »Nein.«
    Mit dem immer längere Ortsnamen aneinanderhängenden Jungen neben mir ging ich die kleine Geschichte meiner Konfliktscheu im Stillen noch mal durch und fragte mich, wie ich mit Jesse zurechtkommen sollte, wenn erst der große Krach zwischen uns ausbrach. Unser Scharmützel auf der Raststättenbrücke bei

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