Nie mehr Nacht (German Edition)
einbetoniert und gleichgültig nach Westen dem Meer entgegen.
Eigentlich waren die alte und die neue nicht zwei Brücken, sondern Vorgänger und Nachfolger der einen Pegasusbrücke, die sie beide gleichzeitig waren – und vielleicht war es das, was sie schön erscheinen ließ. Aus der größtenteils flachen Marschlandschaft mit ihren wenigen Hügeln und vom Seewind niedrig gehaltenen Wäldchen ragte sie als weißes Doppelsymbol in die Luft. Sie war keine Hebebrücke, sondern eine Wippbrücke. Nicht um einen Drehpunkt wurde sie hochgeklappt, sondern die gesamte Konstruktion wurde auf einem Kreissegment abgerollt und der Drehpunkt horizontal verschoben. So stand es in Kevins St:art -Dossier, und da ich die Beschreibung einigermaßen kryptisch fand, so technisch und maschinenhaft wie die Brücke selbst, versuchte ich mir die Pegasusbrücke als Vehikel vorzustellen. Als Fahrzeug mit Rädern, Kufen oder Ketten würde sie einem überdimensionalen Bagger ähneln, der am Caen-Kanal stand und anstelle einer Kippschaufel eine fünfzig Meter lange, schmale weiße Platte auf und nieder wuchtete, über die man von einem zum anderen Ufer gelangte. Heute wurde der Wippmechanismus elektrisch betrieben, aber auch früher? Mein Vater hätte es gewusst. Womöglich wurde die Brücke mit einem Dieselmotor bewegt. McCoy Lee schrieb, dass er und seine Kameraden überall auf der erstürmten Brücke fertig montierte Sprengladungen fanden, doch dass die Deutschen sie aus Angst vor einem Anschlag durch die Résistance noch nicht mit Zündern versehen hatten. Vielleicht hielt sie zudem der Respekt vor den Dieseltanks davon ab.
Sonderbar, die gleiche Brücke in zwei Ausführungen zu sehen, die alte klein und außer Funktion, dafür eine Legende, ein Denkmal, und die jüngere groß, modern, von früh bis spät in Betrieb und doch nichts weiter als eine der Kanalverbreiterung geschuldete Imitation. Nicht mal einen eigenen Namen hatte sie.
Der Regen wurde immer stärker, anstatt aufzuhören, müßig, darauf zu warten. Ich musste mich entscheiden, ob mir dieser erste Eindruck langte oder ob ich durch lauter Matsch stapfen wollte. Den Skizzenblock konnte ich im Auto lassen. Der Himmel verhieß keine Aufheiterung, und meine Stimmung war genauso normandiegrau wie oben das Wolkengeschiebe. Dazu pfiff der über plattes Land fegende Seewind. Wie um mich zum Aussteigen zu bewegen, rüttelten die Böen am Wagen, und schließlich gab ich den Widerstand auf, zog mir den Reißverschluss bis zum Kinn und stieg aus.
In St. Petersburg hatte ich einige Brücken über die Newa und die Fontanka gezeichnet, doch ging es mir dabei nicht um die Bauwerke, die Flüsse, die Stadt. Auch in einer kleinen Serie über weniger bekannte Hamburger Brücken, die ein paar Jahre zurücklag, beschäftigte mich im Grunde nur das Zusammenspiel von Licht und Linie, das Auflösen und Verschwinden des Materials in der Spiegelung und wie diese beständige Verschwendung festzuhalten wäre. Sie war es nicht. Zumindest mittels Scribtol oder Tinte bekam ich das, was mir vorschwebte, nicht in den Griff.
Brücken zeichnen, das hieß das Feste über dem Flüssigen zeichnen, Stein, Holz, Eisen über fließendem Wasser. Da hatten Menschen, denen es nicht nur, wie meinem Vater, um das architektonisch Machbare ging, das Erlebnis der Überquerung in etwas Bleibendes verwandelt. Wasser zu zeichnen war wie Brückenbauen, es hielt das fließende Erleben fest, das gespiegelte Licht, das Himmelsblau, Blinken und Schwanken. Wenn wir von Rio aus mit der Tragflächenfähre über die Guanabara-Bucht nach Niterói fuhren, sahen wir über die dreizehn Kilometer lange Stahlbetonwelle der Presidente Costa e Silva-Brücke die Autos, Laster und Busse pendeln. Der Flughafen, wo auch ich ein paar Tage zuvor angekommen war und von wo ich in ein paar Tagen wieder abreisen würde, lag unmittelbar am Ufer. Jets hatten einen weiten Bogen über die Bucht und die Brücke zu fliegen, ehe sie zur Landepiste einschwenken konnten, und jedes Mal, wenn wir auf der Fähre so einem Flieger zusahen, sagte Ira, wie schön die Brücke sei, wie schön, dass wir beide sie zusammen sehen könnten.
Auf einem meiner Streifzüge durch Manhattan stieg ich an einem kühlen Herbsttag vor ein paar Jahren in Harlem zum Marcus Garvey Park hinauf und blickte von der Aussichtsplattform nach Norden auf die Mietblockgebirge der Bronx. In der Ferne sah ich die alte Hebebrücke über den Bronx River, hellblau, scharf umrissen lag sie im New
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