Nie mehr Nacht (German Edition)
Caen-Kanals. Ein Frachter näherte sich vom Meer kommend der Brücke. Sie ließ ein durchdringendes Geräusch hören, ein sirrendes Klingeln, das in einen langgezogenen Sirenenton überging, ehe dann Stille eintrat und die schneeweiße Platte geräuschlos in die Höhe zu fahren begann.
IN MEINER ABWESENHEIT hatte Ove Juhl begonnen, die Risse in der Hotelmauer auszubessern. Eine lange Aluleiter mit angehängtem Eimer lehnte an der Wand, als ich auf den Hof fuhr, und wie Flüsse auf einer Landkarte von einem dunklen Kontinent verliefen mehrere lange weiße Mörtellinien über das schwarze Gemäuer.
In der Küche kam Chansonmusik aus einem Transistorradio am Fenster, vor dem draußen der wässrig blaue Volvo 740 parkte. Ove hob ein paar Farbeimer von der Ladefläche, rief dann etwas auf Dänisch und ließ die Heckklappe zufallen. Zusammen mit seiner älteren Tochter stiefelte er davon, und Margo boxte ihn dabei auf den Arm.
Maybritt bereitete Blini vor. Sie schnitt Gemüse klein und erzählte, Margo habe bei der Mauerausbesserung geholfen, weil die Jungs durch nichts dazu zu bewegen gewesen seien. Gleich nach dem Frühstück, einem sehr späten, hätten sie sich im zweiten Stock verbarrikadiert, damit Catinka sie in Ruhe ließe.
Ich fragte Maybritt, was die beiden die ganze Zeit machten, und sie nickte in Richtung ihrer Tochter. Cat saß mit einem Tuschkasten am Tisch und malte.
»Sie spielen ein Computerspiel«, sagte sie, ohne von dem vor Nässe gewellten Blatt aufzusehen. »Ein Ballerspiel, mit Nagermonstern und bösen Engeln. Jesse meint, ich träume schlecht, wenn ich es mir ansehe, darum darf ich nicht zu ihnen rein.«
»Es ist Jesses erster Tag bei uns. Heute lassen wir Markus und Jesse mal machen, wozu sie Lust haben. Ihr durftet das auch, als wir angekommen sind.« Maybritt drückte kurz mein Handgelenk, als sie an mir vorbeiging.
»Meinetwegen. Aber eigentlich wollte Jesse was mit mir zusammen spielen«, gab die Kleine zurück.
»Dann wird er das auch.« Ich stellte mich zu Cat an den Tisch und betrachtete ihr Bild.
Es war nicht größer als eine Ansichtskarte und bestand aus zwei Farben: Neben zwei schwarzen horizontalen war je ein gelber und ein schwarzer vertikaler Balken zu sehen. Es war ein einfaches, aber ausdrucksstarkes und gefühlvolles Bild, das entfernt an eines der kaum noch gegenständlichen Gesichter von Jawlensky erinnerte.
»Wie findest du’s?«, fragte Cat, und ich überlegte. Auch ihre Mutter sah herüber von dem Schneidebrett voller Möhren-, Apfel-, Lauch- und Selleriestücke. Ein großes Glas Preiselbeeren stand da. Blini mit Quark, Preiselbeeren und zerhacktem Gemüse hatte ich in St. Petersburg in der Wohnung eines Galeristen gegessen, dessen Mutter für ihn kochte. Wunderbar war Jelena gewesen. Und wir hatten beim Essen auf den Gribojedow-Kanal, die Brücke und die vier Greife mit ihren goldenen Schwingen gesehen.
»Ich finde es wild«, sagte ich. »Es erinnert mich an ein zorniges Gesicht, das eigentlich lieber lachen möchte.«
Maybritt lächelte, sie schnitt weiter, und Catinka schien mit meiner Einschätzung ebenso zufrieden. »Ja, und das ist kein Wunder«, sagte sie. »Das Gesicht ist nämlich der Himmel. Gewitter, dahinter die Sonne heißt es.«
»Und du? Wie war der erste Tag?« Maybritt schüttete das Grünzeug in einen Topf, der auf dem Herd wartete. Sie hatte ausgewaschene Jeans an, dazu ein rotes Sweatshirt, auf dem irgendwas vom Roskilde Festival stand, das aber nur halb zu lesen war. »Hast du dir eine Brücke angesehen?«
»Immerhin war ich da. Hab ein bisschen rumgeschnüffelt«, sagte ich. »Ich werd mal nach Jesse sehen. Vielleicht hat jemand Lust, an den Strand zu gehen.«
Cat wirbelte herum. »Ich auf jeden Fall!«
»Na, dann könnt ihr gleich Ove und Margo mitbringen, die stromern da nämlich irgendwo rum.« Maybritt hatte offenbar keinerlei Bedenken, mir für einen Dämmerungsspaziergang an der Steilküste ihre kleine Tochter anzuvertrauen.
Nein, ich hatte ihre Prüfung bestanden, für sie war ich hinreichend einfühlsam und aufmerksam, ein guter Onkel. Ich stellte mir vor, wie es wäre, sie zu küssen, auf die Sommersprossen an ihrer Oberlippe, und hätte sie gern gefragt, ob sie überall so gesprenkelt war.
Übrigens habe sie sich geirrt, sagte sie. »Die Zeichnung von der Brücke, die ich heute Morgen erwähnte, gibt es nicht. Den halben Tag hab ich überlegt. Und dann fiel es mir ein: Bei meinem Sohn hab ich sie gesehen! In einem von
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