Nie mehr Nacht (German Edition)
gefasst hatte. »Malt ein Zeichner auch, so wie ein Maler zeichnet?«
»Früher hab ich auch gemalt, heute nicht mehr. Ich zeichne, zumindest versuch ich’s.«
»Warum hast du mit dem Malen aufgehört?«, fragte Ove. Die Dämmerung schob sich über den Strand, es sah aus, als würde die Finsternis ins Meer fließen wollen. Oves Augen waren hell genug, um zu verraten, dass er eine Gemeinsamkeit witterte.
»Hör mal.« Er hob einen Zeigefinger.
Große Vögel zogen über uns hinweg, ich sah ihre Silhouette, hörte aber nichts.
»Die Schwingen von etwas betagteren Möwen ächzen ein bisschen«, sagte Ove.
Also erzählte ich diesem Wikinger und seinen zwei Töchtern, dass mir mit sechzehn ein Katalog mit Landschaftsstudien der Pop Art in die Hände gefallen war und dass ich mich gefühlt hatte, als wären mir neue Augen gewachsen. Ich erzählte, dass ich mich mit Staffelei und Leinwand auf einen Duvenstedter Acker gesetzt und die mit Berberitzen und Forsythien bewachsenen Knicks gemalt hatte, bis der Bauer von seinem Traktor sprang und mich vertrieb. Wie Cézanne war ich mir vorgekommen, wenn ich bei Regen unter den Bäumen stand und malte. Ich experimentierte, probierte alles an Lacken, Farben und Harzen aus, was zu Hause in der Garage stand, liebte aber besonders eine spezielle Sorte, Alkyd, die schnell trocknete, und ich verwendete dafür Rollen, Schwämme und immer gröbere Pinsel, die gröbsten, die ich kriegen konnte.
Ein paar Jahre lang machte ich mit dem Malen Ernst und versuchte, die Lasurtechniken, die ich bei den alten Niederländern bewunderte, auf meine Vorstellungen von Landschaftsmalerei zu übertragen. Doch alles, was ich malte, erschien mir zu elegisch, zu bedeutungsvoll, Farbe konnte nie bloß Farbe sein, immer musste sie Räume öffnen, Konnotationen freilegen, für ein Konzept stehen. Margo fragte, was mein Konzept sei, und ich sagte es ihr – mein Konzept war, kein Konzept zu haben. Als ich das Studium abbrach, mit Anfang zwanzig, kam ich mir wie ein Luftschiffer in einem abschmierenden Heißluftballon vor. Plötzlich war alles Ballast, bloß nichts an Bord behalten! Schluss mit der Fremdbestimmung, sagte ich mir, und wenn dich die nackte Angst packt. Wenn Angst, dann wenigstens die nackte. Farbe um Farbe verwarf ich, bis ich schließlich nur noch mit Schwarz und Weiß malte und das Grau und seine Schatten- und Lichttiefen für mich entdeckte. Irgendwann fragte mich eine Freundin, weshalb ich alles nur grau malte, und erst da fiel es mir selber auf. Waren denn für mich die Farben aus der Welt verschwunden? Ich hörte auf zu malen, weil ich mit dem Pinsel immer nur zu zeichnen versucht hatte. Vielleicht war es so, wie Gerhard Richter sagte, vielleicht konnte man noch malen, indem man durch Fotos hindurchtauchte und hinter sie gelangte. Bei Zeichnungen war es anders. Sie waren von der Ablichtungswut nahezu unbeirrt geblieben. Ich zeichnete wieder, zeichnete auf kaschiertem Karton, einer fabelhaften Glätte. Eine Zeit lang probierte ich Zirkel und Architekturschablonen aus, alles, was mein Vater in den Müll warf, Kreise, Quadrate und Dreiecke in allen Größen. Dann wieder war ich versessen darauf, meinen Bögen mit Rasierklingen zuzusetzen. So ging es weiter, und weiter. Übrig blieben nur das weiche Papier, auf dem ich schon als Fünfzehnjähriger gezeichnet hatte, ein paar Stifte, ein paar Federn und der Tuschzeichner meines Vaters, sein Rapidograph, den er wie einen Freund »mein Rapido« nannte.
»Bitter«, sagte Margo. »Aber irgendwie auch gut. Man soll sich nicht verbiegen, keiner.« Sie schien alle Scheu verloren zu haben. In ihrer dicken Windjacke mit der fellgesäumten Kapuze sah sie wie eine gegen den Frost aufgeplusterte Amsel aus. Mit weit offenen Augen blickte sie ihren Vater und mich, die beiden Erwachsenen, die neben ihr dahintrotteten, freimütig an. »Ist doch so, oder?«
»Ja«, sagte Ove nach einer Weile, und das blieb das Einzige, was ihm zu meiner Suada einfiel. Es war ein kräftiges, tiefes und warmes Ja, und ich hörte es noch, als wir schon in Viererreihe den Schlängelpfad zum Hotel hinaufstapften, Catinka voran, dann Ove, ich und schließlich Margo. Jede Zeichnung erzählt eine komplizierte Geschichte, indem sie sie extrem vereinfacht, dachte ich. Aber die Vereinfachung ist nur ein Durchgangsstadium. Sie muss viel weiter gehen, immer weiter. Nicht nur was und wie ich zeichne, auch ich selber muss immer einfacher werden. Zeichne auf immer weniger Blättern immer
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