Nie mehr Nacht (German Edition)
weniger Linien. Werde unscheinbarer, Strich für Strich. Ja genau: Zeichne dich ins Verschwinden hinein!
NACHTS WACHTE ICH AUF und blickte in mein helles Zimmer. Auf meiner Brust saß ein Tier, ein junger Steinmarder mit weißem Kehlfleck. Mit dunklen Kugelaugen sah er mich an und beschnüffelte mit der Atemhast seiner kalten Schnauze mein Kinn. Erst als ich mich bewegte, flitzte er ans Fußende, drehte sich dort, wie um seinen Schweif zu fangen, und kroch darauf mit einer schlängelnden Bewegung unter die Decke.
Da sah ich erst, dass ich nicht allein im Zimmer war. Am Tisch neben dem Heizkörper saß Maybritt Juhl.
»Schau mal, ich wollte dir was zeigen«, sagte sie und deutete auf den Tisch, auf dem bunte Figuren standen.
Ich ging zum Tisch und bückte mich, um sie besser erkennen zu können. Die Figuren bewegten sich, und ich sah, sie waren lebendig, kaum größer als Spielsteine zwar, aber in Hosen und Jacken und mit Schuhen an den Füßen.
»Wonach suchen die?«, fragte ich, amüsiert von dem Zirkus aus kleinen Leuten, der da bei mir gastierte. Es gab Frauen, Männer, sogar Kinder.
»Erkennst du sie?«, fragte Maybritt.
Ja!
Um die Struktur des pflegeelterlichen Netzwerks zu verdeutlichen, in das Jesse eingebettet war, hatte der Berater im Jugendamt Spielfiguren zu Hilfe genommen und sie so auf dem Tisch angeordnet, dass zwei für die Großeltern, zwei für die Pflegeeltern und andere für die Pflegeelternberater, den gesetzlichen Vormund und weitere Menschen standen, die in Jesses Leben eine Rolle spielten, auch wenn sie kaum in Erscheinung traten – so der israelische Vater, ein Arzt in Südengland, zu dem aber kein Kontakt bestand, oder der anwesende Onkel, laut Akte ein Künstler.
Meine Eltern, Lewandowskis, die anwesenden Berater und ich hatten das Modell bestaunt. Dass etwas fehlte, bemerkte keiner. Nur Jesse sah gleich, als er hereingerufen wurde, dass für ihn, um den es doch ging, keine Figur auf dem Tisch stand. Ihn hatten wir alle vergessen.
»Guck«, sagte Maybritt, »da bist du« – und sie zeigte auf ein Männlein am Rand, das alles, was im Zimmer vor sich ging, zu beobachten schien. Mit einem Mal erkannte ich auch meine Eltern: Meine Mutter trug das Kostüm, das sie anzog, wenn mein Vater sie zum Essen ausführte. Und ich sah Karen Lewandowski, ihre langen roten Haare, die überall, wo sie stand oder ging, auf dem Boden lagen.
»Können wir nicht von unten was zu essen für sie holen?«, fragte ich Maybritt, die aber nur den Kopf senkte.
»Was denn? Kekssplitter?«, lachte sie.
Ihre Augen waren nicht Maybritts, sie waren grün wie Iras, wie Jesses und die meiner Mutter, und als ich aufstand, sah ich meinen Schatten darin.
Ich stellte mich ans Fenster. Noch ganz dunkel war es draußen, und man hörte den Wind und das Meeresbranden. Aber an der Wand hing wieder das Bild von der Überschwemmung bei Port-Marly, und daran erkannte ich, wo ich war.
Ich träumte, nur war ich nicht ich selbst, sondern war der grüne Heinrich geworden und erlebte dessen erstes Erwachen im Heimatdorf seiner Mutter.
»Kekssplitter«, sagte ich. »Das hat meine Schwester immer gesagt.«
Und die Frau mit den grünen Augen sagte, ich solle da stehen bleiben, und stand dann selber auf. »Ich zeige dir, was jetzt passiert.«
»Du bist gar nicht Maybritt.«
»Nein?«
Sie zog die Bettdecke beiseite und hob den Marder hoch, der auf ihrem Arm gähnte und sich streckte. Dann wandte sie sich der Tischplatte zu und hielt das Tier fest, bis es sprang.
»Na los! Schieß ab, du Rakete!«, sagte sie, und noch während der Marder fauchend und mit buschigem Schweif mitten im Sprung war, wusste ich, dass er so wenig ein Marder war, wie diese Frau lebendig sein konnte.
Als ich die Augen aufmachte, war weit und breit kein Marder zu sehen. Auch Stuhl und Tisch waren leer, und darüber, an der Wand, hing das Foto von den Zwillingen, ein Jugendbildnis, wie ich plötzlich dachte, der Schwestern, denen das L’Angleterre gehörte und deren Sohn Schrott- und Gebrauchtwagenhändler war und René Flaubert hieß.
Auf dem Handy war es kurz vor vier. Kopfschüttelnd spähte ich durch die Scheiben in die Schwärze der Nacht über dem Meer. Ich hörte den Sturm, und ich wurde ruhiger und merkte, wie ich nach und nach in die wirkliche Zeit und mein wirkliches Zimmer zurückfand. Irgendwann fiel mir auf, dass die Scheiben ganz trocken waren, dass es im Lauf der Nacht aufgehört haben musste zu regnen, deshalb öffnete ich das Fenster
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