Nie mehr Nacht (German Edition)
mir. Begeistert betrachteten sie meine Kafka-Zeichnungen, um das Sirren des Bohrers in irgendeinem weit aufgesperrten Mund zu verdrängen.
Etwas Entscheidendes hatte sich verändert. Gespräche führten zu nichts mehr. Darum gab es kaum noch welche. Die paar Menschen, mit denen ich mich hatte austauschen können, lebten entweder nicht mehr oder waren nicht mehr erreichbar – was auf dasselbe hinauslief. Und die, mit denen ich über SMS noch in Kontakt stand, kannten mich nicht oder nur kaum und hatten nur wenig Interesse daran, einem wie mir zu helfen. Denn sie wussten, sehr genau sogar, einer wie ich sprang ihnen ebenso wenig zur Seite, sobald sie in einer ähnlichen Situation waren.
Fäden, verwirrt und verheddert, Fäden voll gordischer Knoten, die man durchhauen musste, wollte man auch weiterhin den Anschein wahren, dass man in der Lage war, sich selbsttätig freizukämpfen und die eigene Haut zu retten.
Ein ganzes Alphabet brauchte man, um durchzunummerieren, was Tag für Tag zu erledigen war. Ich musste a) mit meiner Mutter telefonieren, um sie über Jesses Verfassung auf dem Laufenden zu halten. Allerdings konnte ich ihr schlecht die Wahrheit erzählen, solange mir die Verfassung ihres Enkels selber ein Rätsel war. Ich hatte daher b) mit dem Jungen zu reden, über Margo, aber auch c) seine Freundschaft mit Niels, die ich seit vergangener Nacht in einem etwas anderen Licht sah. Über d) Rauschmittel musste ich mit Jesse sprechen, jedoch ebenso über e) ganz pragmatische Dinge, die mit dem Mädchen zusammenhingen. War ihm sein Alter klar? Dachten die zwei an Verhütung? Schlief er denn mit Margo, mit Margi?
Vor diesem Hintergrund kamen mir die Angelegenheiten, die mich selber betrafen, vergleichsweise simpel vor. Ich musste f) Maybritt Juhl als das sehen, was sie war, eine lebendige, verheiratete Frau, Mutter dreier Kinder und nicht etwa ein Gespenst, das nachts in mein Zimmer kam. Ich hatte ihr mein Wort gegeben, dass ich ihrem Mann bei Reparaturen am Haus zur Hand ging, und daran g) würde ich mich halten. Gleich nach dem h) Frühstück würde ich Ove suchen gehen, ihren silberbärtigen Gatten, und i) Risse mit ihm ausbessern, j) kaputte Fensterscheiben mit ihm herausbrechen, k) neue mit ihm einsetzen und l) Löcher mit ihm flicken, als wären es nicht bloß Löcher im Dach eines Strandhotels, dessen Tage gezählt waren, sondern die Löcher im eigenen durchlöcherten Leben.
Es gab jede Menge zu tun an diesem Tag, der nur scheinbar ein schon halb verschlafener, beliebiger Tag war. Um ihr kleines Herz nicht zu enttäuschen, musste ich m) mit Catinka über die Grus sprechen und sie bitten, mir noch einmal deren Trompetentanz vorzuführen, musste n) endlich anfangen, Nachrichten von Pegasus zu lesen, das Buch, das mein Vater mir geliehen hatte, und o) mir Gedanken über diesen McCoy Lee machen wie auch p) darüber, ob Erlebnisse eines jungen britischen Fliegers während der Invasion in meine Zeichnungen von der Pegasusbrücke einfließen sollten. Wollte ich q) die Brücken denn überhaupt noch zeichnen, r) nach Souleuvre fahren, zum Gui, zur Douve? War dem nämlich nicht so, dann s) hatte ich mir das einzugestehen, musste mich t) nach Gründen fragen oder mir u) wenigstens Ausreden zurechtlegen. Dann würde ich v) mit Kevin reden müssen, könnte w) Zeichenblock und Stifte wegwerfen, x) Saskia bitten, dass sie mein Studio kündigte oder y) es am besten gleich weitervermietete an ihre Freundin, und musste dann nur noch z) Carlo den Riesenschnauzer befragen, wie man mit dem Verschwinden Ernst machte.
Auf dem Küchentisch standen vier saubere Frühstücksgedecke. Jesse, seine Freundin und deren Bruder schienen noch im Gebirge der Träume unterwegs zu sein.
Ein Zeichenblatt, postkartengroß, lehnte an meiner Kaffeeschale vom vorigen Morgen, aber auch so hätte ich unschwer erkannt, für wen das Bild bestimmt war.
Es zeigte einen Grus. Der große, schöne Vogel hatte weißgraues Gefieder, dunkle Schwingenspitzen und einen haubenartigen roten Federkamm. Er war sehr schmal, kaum breiter als sein langer Säbelschnabel, stand auf einem Bein und sah seinen Betrachter, sah mich mit so wachen wie in sich ruhenden Augen an.
Ich trank Milchkaffee, aß Schinken und ein Ei. Während ich frühstückte, wanderte mein Blick zu der Tuschzeichnung zurück. Der Kranich stand im Sand einer grasbewachsenen Düne. Blassblau, als dünnen Streifen, hatte Catinka im Hintergrund das Meer gemalt, den hingetuschten Ärmelkanal. Und
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