Nie mehr Nacht (German Edition)
Tag – nenn es, wie du willst«, hörte ich sie sagen, als ich das Handy losließ und zusah, wie es ins Wasser fiel und unterging.
MINÜTLICH WURDE ES SONNIGER , während ich am Strand entlanglief, um einen kühlen Kopf zu bekommen. Der Himmel riss auf, die Wolkenfetzen zogen langsam über die See davon, und dort auf dem Meer lagen bald nicht mehr nur blinkende Flächen. Der ganze Ärmelkanal schien unversehens eine einzige blau leuchtende Weite, die, als würde sie atmen, sich sachte hob und senkte und über die immer tiefer die weißen Punkte und grau gebänderten Trapeze der Möwen segelten. Schon stießen weit draußen erste Vögel zu den Wellen hinunter. Sie wasserten, und ich sah sie sich im Licht schütteln, bevor sie die Flügel einklappten und sich von der Dünung strandwärts treiben ließen.
Verdrängen.
Verdrängen, vergessen.
Vergessen, vergeben, und gut.
Nein, verflucht. Ich hob eine Handvoll schwarzer Kiesel auf und schleuderte sie einzeln, so weit ich konnte, unter Keuchen und Schimpfen in die Brandung. Sollten sie zusehen, wie sie auf dem Laufenden blieben. Sollen sie den Jungen anrufen, wenn sie wissen wollen, was er den ganzen Tag treibt, dachte ich. Was habe ich mit ihnen zu schaffen? Keinen von ihnen würde ich kennen, mit niemandem ein Wort wechseln. Mit keinem Wort hatte sie gefragt, wie es mir ging, ob ich mit diesen Dänen zurechtkam, ob ich schon eine Brücke gesehen hatte. Bist du vorangekommen, konntest du etwas zeichnen, Markus?
Nein, konnte ich nicht. Und allmählich glaubte ich auch nicht mehr, dass ich noch einmal Kraft, Muße, Liebe, wie immer man es nannte, dazu aufbrächte. Fang an und tu’s. Du musst durchhalten. Hat dir zu arbeiten nicht immer geholfen? Doch, sehr. Nein, nicht sehr. Ein bisschen. Hinweggetröstet, hinweggeholfen hat mir die Zeichnerei. Ohne sie wäre ich zugrunde gegangen an dem Stumpfsinn, der sich auf beinahe alle legt, die keine Gelegenheit haben, ihr Talent zu erkennen, und überall fehl am Platz scheinen. Und ist das etwa nichts? Es ist eine Menge. Immerhin suchst du die Schuld nicht bei deiner Familie, nicht bei denen, die du liebst. Und die du am meisten geliebt hast, gibt es nicht mehr. Es ist aus und vorbei mit euch. Warum die Schuld weiter bei dir suchen, bei überhaupt irgendwem? Das, was man Schuld nennt, wird noch früh genug verteilt werden, bestimmt aber nicht von Leuten, die glauben, das Richtige zu tun, und von dir genauso wenig.
Missmutig grübelnd und wütende Reden vor mir selber schwingend, trottete ich dahin und rauchte eine nach der anderen. Ich dachte an Kevin Brennicke und stellte mir vor, wie perplex er wäre, wenn er merkte, dass Markus Lee untergetaucht war. Was jetzt? Was mit den Brücken? Nana würde so laut schnauben und in Gelächter ausbrechen, dass die Schildkröten ihrer Kinder den Kopf einzogen, und sie würde ihren verdutzten Mann fragen, ob er allen Ernstes etwas anderes von so einem wie mir erwartet hatte!
Die Nummer der St:art -Redaktion ließ sich im Netz finden, ich konnte Niels bitten, mir seinen Laptop zu leihen, konnte Kevin also auch gleich eine Mail schicken. Wollte ich das? »Noch weiß ich gar nichts«, sagte ich laut zu mir selbst. Noch vermutest du doch nur, dass du hier nichts zuwege bringen wirst, noch hast du doch bloß Angst davor. Dir bleiben fünf Tage. Fahr nach Souleuvre oder zum Gui, dann wird sich’s schon zeigen. Mit Glück geht irgendeine Tür auf.
Als die Chesterfields-Schachtel leer war, meine vorletzte, drehte ich um. Rasch und mächtig kam jetzt die Flut. Höher und höher musste ich auf den Sand fliehen, um nicht nasse Schuhe zu bekommen. Blickte ich zurück, schien der helle, von schwarzen Felsen durchbrochene Streifen ein Gemälde, in das ich hätte hineingehen können. Alfred Sisley hatte zuletzt solche Bilder gemalt, rätselhaft, von immer demselben verlassenen Felsenstrand irgendwo an der walisischen Küste. Ein schöner Todesstreifen! Vor siebzig Jahren, mein Vater war noch jünger als Cat, hatte die Wehrmacht diesen einladenden Sandburgenbaugrund in vermintes Gelände verwandelt. Unterhalb des Steilhangs und quer durch die Dünen verlief auf Höhe der Flutlinie der Stacheldrahtverhau. Alle paar Meter standen Belgische Tore und Spanische Reiter. Schwarze Tarnnetze verhüllten Stahl und Beton. Sie ließen die Panzersperren von der See aus wie schimmernde, vom Salzwasser beleckte Felsen wirken.
Auf dem Schlängelpfad hinauf zum L’Angleterre glaubte ich plötzlich zu verstehen,
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