Nie mehr Nacht (German Edition)
ihrem Ferienhaus auf Gomera die Treppe runtergefallen war und sich die Hüfte gebrochen hatte. Ich lief über das nachgiebige nasse Moos zu der schmiedeeisernen Pforte, an der Maybritt mit Carlo stehen geblieben war, um Catinka und mir zu winken. Die Gittertür war nicht abgeschlossen, ich machte sie auf und trat hinaus auf die Grasböschung, die Steilküste. Da stand ich.
»Jedenfalls wollte dein Vater dann gar nicht mehr zum Bodensee. Plötzlich hatte er nämlich die Idee, die Zeit nutzen zu können, um am Haus was zu machen«, sagte meine Mutter halb fröhlich und halb belustigt, wie sie es gern tat, wenn sich eine Gelegenheit bot, um den überflüssigen Aktionismus ihres Mannes hervorzuheben.
Ich blieb stehen, blickte über die See und wunderte mich, wie schwach der Wind war. Fast wirkte er warm, wie eine linde Brise. Er war kein Meerwind, kam nicht von den Britischen Inseln, sondern von Osten, über Land, »ein ablandiger Wind«, hätte mein Vater gesagt.
»Siehst du«, lachte ich versöhnlich, »kaum repariert ihr was, bessert auch Jesse was aus. Was ist denn kaputt bei euch?«
»Was soll kaputt bei uns sein, Markus, alles ist hier kaputtgegangen, aber das immer bloß zu beklagen führt doch zu nichts! Deshalb bauen wir wieder auf, was kaputt ist.«
Ich hörte, dass sie kurz davor war zu weinen. Was los sei, fragte ich also und schritt langsam und gefasst, das Handy am Ohr, auf dem sandigen Schlängelpfad, wo ich auch mit Catinka gegangen war, den Hang hinunter zum Strand. Ich fühlte mich kräftig, frei und gesund, und mit einem Mal hatte ich große Lust zu zeichnen, das Gras, die Vögel, die blinkenden Flächen auf dem Wasser, irgendwas, das keine Brücke war und keine Geschichte hatte.
»Los sein, los sein! Nichts ist los.«
»Ich hör’s doch.«
»Was willst du von mir, Markus? Was hörst du?«
Ausflüchte.
Jetzt war sie es, die nach einem Fluchtweg suchte. Jetzt sah sie sich selber in die Enge getrieben und nahm eine Schonhaltung ein, die sie schmerzfrei halten sollte, doch das gelang nicht.
»Dein Vater meint, es ist besser so«, sagte sie mit belegter Stimme.
Und ich lachte noch: »Was ist besser, Mama, was willst du mir denn eigentlich sagen?«
Und sie sagte es: »Er hat sie abgerissen. Sie ist weg.«
Und ich sagte, als wäre ich schwer von Begriff, als hätte ich es nicht schon im selben Moment vor mir gesehen: »Was hat er abgerissen, was ist weg?«
Und sie: »Die Garage.«
Und ich: »Nicht dein Ernst.«
»Oh doch, mein lieber Sohn!« Sie lachte auf. »Weg ist sie, ein für allemal verschwunden, nichts ist mehr von ihr übrig als ein Schutthaufen, und den holt morgen Vormittag ein Lastwagen, um ihn dahin zu schaffen, wo er hingehört: in ein tiefes Loch, aus dem nichts wieder ans Tageslicht kommt.«
»Ein Schutthaufen«, wiederholte ich, »ein Lastwagen«, wie ein Begriffsstutziger. Ich sah den Weg durch das Dünengras vor mir, den Sand, der noch feucht war vom Regen der Nacht, und ich hörte am Himmel die Vögel, die hinausflogen aufs Meer oder von dort zurückkamen. »Aber wieso denn«, sagte ich.
Und sie: »Wieso was?«
Und wieder ich: »Wieso ausgerechnet jetzt. Etwa, damit ich es nicht verhindern kann? Oder der Junge?«
»Es war lange geplant, und jetzt ist es passiert.«
»Das ist lachhaft.«
»Finde du es lächerlich«, sagte sie, als ich zum Strand hinunterkam. Ich blieb stehen und blickte mich um – es war niemand zu sehen. »Wenn ihr zurückkommt, wird dort, wo jetzt der Schutthaufen liegt, ein Carport stehen. Mit zwei Stellplätzen.«
»Zwei Stellplätze«, wiederholte ich und lief zum Wasser.
»Aus hellem Holz. Kiefer. Mit zwei geschwungenen Pergolen, eine für Efeu, eine für Wein.«
»Geschwungene Pergolen«, wiederholte ich und war schon an der Wasserlinie. Wellen schwappten über schwarze Steine.
»Und mit Lichtfenstern im Dach. Schön hell. Frei und luftig«, sagte meine Mutter traurig.
Und ich wiederholte und ging dabei in die Hocke: »Lichtfenster.«
»Markus. Du weißt, wem dieses Haus gehörte und wem es gehört. Dein Vater und ich können nicht mehr. Wir können diese Dunkelheit nicht länger ertragen und wollen es auch nicht. Wir ziehen einen Schlussstrich. Die Nacht ist vorbei, jetzt ist Tag.«
Ich hockte am Wasser. Ich sah die weite blassblaue Fläche vor mir und darüber den Himmel, wie Cat sie als Hintergrund für ihr Bild von dem Grus gemalt hatte. »Jetzt ist Tag«, sagte ich.
Und meine Mutter wiederholte die drei Wörter. »Jetzt ist
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