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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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nur sehen, was übrig blieb.
    Monsieur Flaubert war ein bulliger Mittsiebziger mit Haarkranz und Humor. In ausgebeulten Cordhosen schritt er vor Juhls her durch die Flure und wirkte dabei nicht wie der Erbe des L’Angleterre , sondern wie dessen Hausmeister, allerdings einer, der draußen im Hof einen Citroën SM , Baujahr 1972, stehen hatte, eine Rarität und, golden lackiert, eine wahrhafte Schönheit.
    Die neuen Fenster, das reparierte Dach, die verspachtelte Hotelmauer, alles sah sich der Schrott- und Gebrauchtwagenhändler sehr genau an. Er war zufrieden, abgesehen von den zwei Möwenzimmern im dritten Stock. Aber er lachte sogar. Frisch gerichtete und gebleachte Zähne hatte er, Biggy Fuerstner hätte es nicht übersehen. Als wir wieder im Freien standen, ließ er sich von Maybritt eine Zigarette anbieten, während Ove ihm verraten musste, wie viele Störche er in fast zwei Wochen gezählt hatte. Es waren knapp zweitausend.
    »Paff!«, machte Flaubert und lachte noch mal.
    Dann sah er ernst mich an. »Et vous êtes un peintre?«
    »Zeichner«, sagte ich.
    »Ah, un dessinateur …« Er verstand etwas Deutsch, seine Sekretärin war halb Deutsche. Er fragte, was ich zeichnete – les mouettes? Für die alten Normannen seien ja Möwen Seelen gewesen, die sich zwischen Toten und Lebenden nicht entscheiden konnten.
    Und wieder der Schuss aus dem Mund: »Paff!«
    Als er sich von Juhls verabschiedet hatte, bat ich ihn um eine kurze Unterredung und winkte Niels dazu. Ich zeigte Flaubert den Daimler und hörte zu, wie der Junge, ohne eine Miene zu verziehen, mein Anliegen dolmetschte. Wir gingen zu dritt um den Wagen, ich öffnete die Haube, wir besahen uns die Maschine, ich startete, Flaubert setzte einmal zurück, testete auf dem Kiesbett die Bremsen und parkte dann wieder im Carport. Er spottete erst, machte dann aber sein Angebot, und Niels übersetzte es mir. Er bot mehr, als ich erwartet hatte. Einen 300er TE finde man nicht mehr alle Tage, dolmetschte Niels. Ich handelte noch etwas, um mir die Verblüffung nicht anmerken zu lassen, dann schlug ich ein, und Flaubert sagte, er würde am nächsten Tag jemanden schicken. Oder wollte ich »la Mercedesse« vorbeibringen? Er könnte mir den Schrotthof zeigen, einen der größten in der Normandie.
    »Wissen Sie«, sagte der alte Flaubert mit der sechzehnjährigen Stimme von Niels Juhl, »den ersten Schrott, den hab ich hier am Hotel gesammelt, unten am Strand, direkt nach dem Krieg. Da war jede Menge abzutransportieren. Mein Großvater, mein Vater und ich, wir buddelten die Panzersperren der Boches aus, sägten sie in Stücke und machten sie zu Geld. Kübelwagen, Motorräder, Spähpanzer, die Deutschen ließen ihren Schrott einfach stehen, als die Engländer kamen. Jemand musste den Dreck wegräumen, und weil uns das Hotel gehörte, das die Briten zur Offiziersunterkunft erklärten, überließen sie uns im Gegenzug das Metall, das tonnenweise überall rumlag.«
    »Wieso willst du noch länger im L’Angleterre bleiben?«, fragte mich Niels, als der SM vom Hof gefahren war. »Und was ist mit Jesse, wenn du hierbleibst?«
    »Ihr nehmt ihn mit«, sagte ich. »Ich habe deinen Vater gefragt, und deine Schwestern und Cats Schnecke freuen sich bestimmt. Ich bin hier noch nicht fertig. Ich brauche Zeit.«
    »Hab dich mal gegoogelt«, sagte ich zu Ove Juhl, als wir zwischen den Binsengräsern hockten und er mit dem Fernglas in die Kranichkolonie hinüberstarrte.
    Er lächelte.
    Deshalb erzählte ich, wie ich mit seinem Sohn ein Computerspiel gespielt hatte, das mir aber irgendwann langweilig geworden war. Niels überließ mir seinen Laptop, und ich schrieb Mails an Kevin Brennicke und meine Exfrau und stöberte dann noch etwas in den Einträgen über südenglische Ärzte und den dänischen Ornithologen Jan Ove Juhl.
    Seit mehreren Jahren ging die Vogelkundlergemeinde nicht sehr wohlwollend mit ihm um, hatte ich mir zusammengereimt.
    »Du musst nicht alles glauben, was die schreiben«, sagte er tonlos, ohne das Fernglas abzusetzen. »Seit ich aufgehört habe, in dem Zirkus mitzumischen, bin ich ein Spinner für die. Vielleicht stimmt es sogar. Ja!«, lachte er, »stimmt wohl.«
    Die Kraniche kamen nicht über die See. Ich verstand, weshalb ich nie einen gesehen hatte. Zwischen spätem Nachmittag und frühem Abend kamen ihre Geschwader aus dem letzten Licht landeinwärts. Manchmal waren es kleine Gruppen aus fünf oder sechs Vögeln, manchmal aber auch riesige Pulks aus in sich

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