Nie mehr Nacht (German Edition)
blieben aber auf dem Uferstreifen sofort stehen. Es war matschig, und es stank. Wonach wir eigentlich suchten, wollte der junge Juhl wissen.
»Nach dem Tod«, sagte ich trocken.
Und Niels: »Ist klar.«
Und ich sagte, ohne ihn anzusehen: »Du bist ein ziemlicher Schlauberger, oder? Einer von den ganz Ausgebufften. Lauf mal besser rauf zu deiner Mama.«
Er erwiderte nichts, aber ging auch nicht zurück, sondern blieb einfach, wo er war.
»Hoho«, machte er nach einer Weile, und dann noch einmal, »hoho.«
»Es gab eine SS -Panzerdivision ›Hitlerjugend‹, die bestand aus besonders eifrigen Jungspunden, so wie du einer bist und ich mal einer gewesen bin. Hier in der Nähe trafen sie auf eine nordirische Einheit der Royal Army und schossen sie zu Klump. Die Iren flohen und mussten ihre Verletzten zurücklassen. Rate mal, wo sie sich versteckt haben, bis die Totenköpfe sie fanden.«
»Ich kenn die Geschichte. Du meinst die Ulster Rifles. Aber ich hab das nie nachgespielt, weil ich keine Lust hatte, mich von SS -Bubis abballern zu lassen. Die Rifles waren verwundet, die hatten keine Chance, aber auch gar keine.«
»Nein, hatten sie nicht«, sagte ich. »Und wir beide stehen hier rum und palavern von einem Massaker an schwer Verwundeten, das keinen mehr interessiert. Los, gehen wir rauf. Mir sagt das hier nichts, ich werde nur wütend.«
Unter der Brücke hindurch konnte man auf die freien Felder sehen. In einiger Entfernung standen ein paar weiße vereinzelte Häuser am Weg, unbewohnte, anderweitig genutzte frühere Bauernhäuser. Ich versuchte mir vorzustellen, von hier aus die Panzer der SS -Division durch das Weizenfeld kommen zu hören. Man sah sie sehr lange nicht, sah bloß die Schneisen, die sie ins Getreide walzten. Nur das klirrende Rasseln kam immer näher.
Aber auch das war nichts als Erinnerung. Oder war sogar nur die Erinnerung an eine Erinnerung – nämlich an die verstörende Szene mit dem verzweifelten jungen Volker Lechtenbrink in Bernhard Wickis Die Brücke . Mein Vater und ich hatten den Film etliche Male zusammen gesehen.
Niels kletterte vor mir her die Böschung rauf, sodass ich seine gelben Turnschuhstiefel mit blauen Schnürsenkeln sehen konnte. Oben drehte er sich um und blickte zu mir runter. »Ein paar Dörfer weiter haben sie verletzte Kanadier hingerichtet, und nicht wenige, über hundert. Und weißt du warum, alter Mann?«
»Weil es ihnen Spaß gemacht hat«, sagte ich. »Und weil sie fanatisch waren, kaputtgehetzt. Viele waren nicht mal achtzehn.«
»Sie hatten Befehle, keine Verwundeten zu machen.« Niels ließ mich vorbei. »Nachts müsste man hier sein«, sagte er. »Ohne Schlafsack und Essen unter der Brücke übernachten. Dann kriegt man vielleicht eine Peilung. Aber besser noch, man wäre verletzt, hätte einen Bauchschuss oder so.«
»Du bist ein Schnacker.«
Oben an der Brüstung atmete ich die frische Luft ein. Maybritt und die Kinder warfen Kiesel in den Gui, und ich sah den Feldweg entlang in Richtung Bénouville und wie dort das Mädchen auf seinem Rad davonsprintete.
Über Ouistreham fuhren wir zurück. Ich reichte Niels McCoy Lees Buch nach hinten. »Schenk ich dir. Wenn du Lust hast, lies es.«
Es war eine Entschuldigung, und er bedankte sich.
Maybritt bog auf die Küstenstraße.
Cat fragte: »Warum gibst du alle deine Sachen weg? Dein Zimmer ist schon ganz leer.«
Niels lachte. »Du bist wie der Typ in Die Bourne Identität !«
Ich: »Matt Damon.«
Er: »Klar, aber so heißt er nicht in dem Film.«
Ich: »Nein, aber in Wirklichkeit.«
Niels lachte.
Ich wusste selber nicht, was mit mir los war. Weder ging ich nach einem bestimmten Plan vor, noch wollte ich mich oder jemanden sonst für irgendetwas bestrafen. Ich mochte das Gefühl, immer leichter zu werden, an immer weniger denken zu müssen, das war eigentlich schon alles. Während des Strandspaziergangs mit Jesse, Margo und dem Hund zählte ich einmal alle Gegenstände, die ich noch nicht weggegeben hatte, und kam auf ungefähr fünfzig. Als dann aber Flaubert im Hotelhof stand und ich ihm den Daimler verkaufte, reduzierte sich die Anzahl rapide.
Ein Paar Schuhe, zwei Hosen, Hemden, Pullover. Wechselwäsche, Anorak.
Feuerzeug, Zigaretten. Gürtel, Schlüsselbund, Brieftasche.
Catinkas Star Wars -Karte und ihr Grus.
Ich hatte Margo die Fleetwood Mac- CD und ihrer Mutter das Brückendossier geschenkt.
Ansonsten besaß ich nur noch Zahnbürste und Rasierer.
Ich wollte ja nicht verwahrlosen,
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