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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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»Klar. Sie wollte die Sachen weggeben.«
    »Spenden? Oder an wen?«
    »Hab ich sie auch gefragt.« Jesse fixierte meine Augen mit dem leicht flackernden Blick, den auch Ira gehabt hatte, wenn ihr etwas besonders bedeutsam erschien. »Kennst du«, fragte er, »die alte mausgraue Frau?«
    Wenn Jesse so neben mir herging, die Wollmütze über die blonde Mähne gestülpt, wortkarg und abwartend, musste ich an Nachtwanderungen mit seiner Mutter denken. Genauso missmutig, lauernd, stapfte Ira neben mir her. Durch die Spaziergänge sollte sie Zutrauen fassen und an Selbstvertrauen gewinnen, indem sie sich Nacht für Nacht weiter vom Haus entfernte und die Dunkelheit als harmlos kennenlernte. Aber Ira hatte die Maßnahme nicht lange durchgehalten. Von Mal zu Mal wurde sie ungehaltener, erfand Ausreden, verfluchte ihre Krankheit, ihre Gruppe, ihren Arzt, und weigerte sich schließlich ganz.
    Wir fuhren mit dem Nachtbus. Die Busse des Hamburger Verkehrsverbundes wurden tagsüber von zumeist mürrischen, nachts aber von allesamt vor Verzweiflung grauen Gestalten gelenkt. Jeder von ihnen hatte Besseres verdient. »Alles Gespenster«, sagte sie auf unserem Weg durch Eppendorf, Winterhude oder die Jarrestadt. Und fuhr sie wirklich nur dieses eine Mal in dem alten, frisch brombeerrot lackierten Mercedesschiff unseres Vaters mit? Das fragte ich mich plötzlich. Einmal hatte ich sie mit dem Daimler in Wellingsbüttel abgeholt. Sie hatte sich an dem Tag die Haare abgeschnitten – wo langes dunkelblondes Haar gewesen war, trug sie nun eine schwarze Kurzhaarfrisur mit einer einzelnen breiten Strähne, die ihr übers Gesicht fiel und offenbar als Versteck diente.
    In Schnelsen war es schon fast dunkel, und wir standen in dem Garten, in dem wir als Kinder gespielt hatten. Es gebe nichts, was nachts anders sei als am Tag, sagte ich.
    »Allem fehlt nur die Farbe«, sagte Ira. »Ich kann es noch auswendig!«, flüsterte sie. »Das Bett ist das Bett, das Zimmer das Zimmer. Der Flur ist der Flur und die Treppe die weiße Treppe. Die Tür ist die Tür, und sie ist zu.«
    Als es finster genug war, holten wir die Räder meiner Eltern aus dem blumenberankten Garagengartenhaus und fuhren unter halb ernstem, halb gespieltem Angstgejohle in die Nacht hinein.
    Wir fuhren bis Poppenbüttel, mussten daher durch Niendorf, Langenhorn, Fuhlsbüttel und Hummelsbüttel gekommen sein. Unser längster Ausflug! Nicht mal vor einer unbeleuchteten Eisenbahnbrücke machte sie halt, sondern schob ohne zu zögern das Rad unter dem Backsteinbogen durch. Irgendwann, es war schon nach Mitternacht, kamen wir zum Gelände einer Musterhausausstellung zwischen dem Bahndamm und einer stillen Wohnstraße.
    »Komm, da steigen wir ein!« Sie sprang ab und rannte los, die Böschung runter zu einem der Holzhäuser. »Trau dich, los!«
    Wir versteckten die Räder, drückten ein Türfenster ein und zwängten uns in das Haus. Es hatte sogar ein Obergeschoss, mit einem winzigen Schlafzimmer unterm Dach und einem Bad, in dem alles Attrappe war.
    Eine Weile malten wir uns aus, wie es wäre, in das Musterhaus einzuziehen, in der kleinen Küche zu kochen, in dem kleinen Bad zu duschen, zur Toilette zu gehen, sich auszuziehen und ins Bett zu schlüpfen, so wie in Schnelsen, zu Hause, wie früher. Wir lagen auf der für niemanden bestimmten Matratze. Ich streichelte sie, und ich schlief schon fast, als Ira aufstand, auf den Schalter an der Tür drückte und sagte, weil nichts passierte: »Es gibt kein Licht.«
    Die zweite Brücke lag nördlich von Caen bei Cambes-en-Plaine und führte über den Gui, ein Nebenflüsschen des Orne-Kanals. Maybritt parkte an einem Feldweg am Flussufer, der sich bis zu der aus Findlingen gebauten Brücke durch Getreidefelder und Knicks voller Haseln und Kopfweiden schlängelte. Catinka rannte voraus, um ihrer Schnecke den Gui und die Brücke zu zeigen. Sie beugte sich über die Brüstung und quiekte vor Entzücken, weil das Wasser voller Fische war, die wie schwimmende grüne Messer aussahen.
    Ein Mädchen ungefähr in Margos Alter stand auf der Brücke und sah uns kommen. Es hatte Jeans an und einen blauen, viel zu großen Pullover. Das Mädchen stand bei seinem Fahrrad und schien zu überlegen, ob es besser war weiterzufahren. Der Wind brauste in das fast braune Getreide.
    »Ich muss unter die Brücke«, rief ich auf der Böschung, und Niels folgte mir, als er sah, was ich vorhatte. Nacheinander tauchten wir in das Halblicht unter dem Brückenbogen,

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