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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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Das hätte ich Jesse gern gesagt, doch leider, dafür war er noch nicht alt genug. Und heute betrank man sich auch anders als vor dreißig Jahren, bildete ich mir ein. Außerdem war es schon zu kalt, um am Strand zu übernachten.
    »Komm mal mit ins Licht«, sagte ich stattdessen, »ich will dir was zeigen.«
    An der Treppe war es am hellsten. Missmutig stapfte er in seinen klobigen Turnschuhen und mit einer Hose, die ihm sonst wo hing, neben mir her. Die Einzigen, die im L’Angleterre von morgens bis abends die Schuhe anbehielten, waren er und ich, und von den Baggy Pants hatte er einmal beim Abendbrot erklärt, dass sie Zeichen rebellischer Solidarität seien. Die Hosen hingen absichtlich so tief. Es war eine Mode, ja. Aber sie bedeutete etwas. Sträflingen in US -Gefängnissen wurde vorsorglich der Gürtel weggenommen, deshalb rutschten ihnen die Hosen runter. »Trotzdem Uniform«, hatte Niels am Tisch gespottet und von Jesse nur Hohn dafür geerntet: »Du bist selber eine Uniform, Digga.«
    Vor der Bilderwand, auf die der Treppenstrahler gerichtet war, zog ich das Foto aus der Tasche und zeigte es ihm, hielt es aber fest, damit er es nicht umdrehte.
    »Oha! Kenn ich nicht, das Bild. Wo ist das? Ist ja krass.«
    Ich sagte ihm, was ich von dem Foto wusste, nicht aber, wer die beiden Frauen waren. Ich beobachtete ihn, und ich sah in seinen Augen, dass er auf Anhieb seine Mutter erkannte.
    Dass er eine Fremde vor sich sah, sagte ich ihm nicht. Zum Abschied aneinandertippende Faustknöchel. Jesse schlurfte zurück, während ich nach unten ging und mir in der Küche ein Glas Calvados mit Perrier mixte. Im ersten Stock setzte ich mich in den Billardraum, trank den Drink sehr langsam und hörte auf die Geräusche im Haus. Einige Jahre lang war es besser geworden, doch seit Iras Tod konnte ich es in dunklen Zimmern wieder kaum länger als eine Minute aushalten. Die endlos währende Helligkeit aber machte mich auch nicht ruhig. Immer im Licht, blieb ich in einem Zustand permanenten Aufgescheuchtseins.
    So saß ich in einem der alten Fauteuils vor Regalen voller genauso alter Bücher. Ich nahm mir vor, mein Konto aufzulösen, sobald Saskia den Erlös aus dem Studio überwiesen hatte. Ich nahm mir vor, außer dem Bargeld alles in meiner Brieftasche wegzuwerfen, und ich fragte mich, wie lange es wohl dauerte, bis man sich ohne Ausweise und Chipkarten auch namenlos fühlte. Schon kam ich mir wie ein anonymer Fremdling vor, und als der spielte ich eine Partie Billard gegen mich selbst, meine frühere Existenz, und gewann. Siegprämie war ein Glas mit unverdünntem Calvados, das unten in der Küche auf mich wartete.
    Ich trank, ließ dabei die Augen über die Regalwand wandern und hielt im nächsten Moment einen Band mit Hemingways Storys in der Hand. Ich las, und die Unheimlichkeit der Nacht umgab immer tiefer und undurchdringlicher das helle Zimmer. Hotel, Hof, Mauer, Steilküste, der Strand und das Meer, alles war dunkel. Mit dieser Vorstellung schlummerte ich in meinem Sessel ein und wachte nur einmal auf, als die Kinder sich rausschlichen, um sich von allem zu verabschieden.

4
    A ls ich das nächste Mal aufwachte und langsam zu mir kam, war der ganze Spuk vorbei. Ich lag auf dem Sofa im Billardzimmer. Dem milchigen Licht zufolge musste später Vormittag sein. Im L’Angleterre war es so still, dass man nur den ums Haus pfeifenden Wind hörte, und sofort wusste ich, sie waren weg, seit Stunden.
    Ich duschte, ich frühstückte. Ich las den Brief, den Ove Juhl mir geschrieben hatte und der auf der Rückseite einer Zeichnung von Catinka stand, einem großen A inmitten von lauter kleineren, lauter Eiffeltürmen. Oves Nachricht bestand aus einem einzigen langen Satz. Er schrieb, dass es schön gewesen sei, mich kennenzulernen, und dass Britta und er mir gern ihre Insel zeigen würden, die Insel, von der sie kamen. Unweit von Samsø liege sie, sie heiße Sejerø und habe die Form eines Vogelflügels, der Schwinge von einer Sturmschwalbenart, die es nur im Kattegat gebe.
    »Farvel – Jan Ove«, war ganz unten und sehr klein auf dem Blatt zu lesen.
    Im Anorak stand ich in der Lobby und wartete eine halbe Stunde lang ab, ob das Telefon tatsächlich klingelte, nur weil ich es wollte. Ein alter Voodoozauber, der mit schnurlosen Geräten nicht funktionierte. Die Kunst bestand darin, beharrlich zu bleiben, mit stoischer Heiterkeit musste man seine Gedanken fokussieren und den Wunsch Wirklichkeit werden lassen. Je öder einem nämlich

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